Der neunte Roman des marokkanischen Schriftstellers Youssef Fadel steht auf der Shortlist für den International Prize for Arab Fiction. “A Rare Blue Bird Flies with Me” thematisiert das während der “bleiernen Jahre” unter Hassan II. begangene Unrecht. Von Sherif Dhaimish
Anfang der 1970er Jahre kam es zu zwei Putschversuchen gegen König Hassan II. von Marokko. Beim ersten Versuch 1971 stürmten Kadetten den Skhirat-Palast. Der König überlebte. Viele Aufständische wurden daraufhin exekutiert. Das Fernsehen sendete live. Zahllose andere Personen wurden in Schauprozessen verurteilt und verschwanden in den berüchtigten Geheimgefängnissen.
Der zweite Aufstand folgte am 16. August 1972: Vier Jagdflugzeuge des Typs Northrop F-5 fingen das Flugzeug von König Hassan II. bei dessen Rückflug von Frankreich nach Rabat ab und wollten es zur Landung auf einem Militärstützpunkt zwingen. Am Boden griff Verteidigungsminister Mohammed Oufkir nach der Macht im Staat.
Der König – selbst ein ausgebildeter Pilot – täuschte einen Funkspruch der Piloten vor, der Tyrann sei tot. Dank dieser List konnte er sicher auf dem Flughafen Rabat landen und der geplanten Gefangennahme entgehen. Anschließend wurden wiederum Hunderte Aufständische festgenommen. Nach offizieller Lesart beging Oufkir noch am selben Tag Selbstmord. Aufgefunden wurde er allerdings mit Kugeln durchsiebt.
Bleierne Jahre
Diesen Ereignissen folgten die sogenannten “bleiernen Jahre”, die auch den Handlungsrahmen für den Roman “A Rare Blue Bird Flies with Me” bilden. Tausende Menschen saßen in den geheimen Gefängnissen Marokkos. Schätzungsweise 700 Dissidenten verschwanden spurlos. Der Autor Youssef Fadel verbrachte Mitte der 1970er Jahre selbst sechs Monate in der Haftanstalt Derb Moulay Cherif:
“…Unter dem extremen Druck der barbarischen Zustände erlebt man die eigene Lage irgendwann als normal. Und dies ist der wohl schrecklichste Aspekt einer solchen Erfahrung. Später, nach der Freilassung – wenn man jene Zeit hinter sich gelassen hat – lebt die Erfahrung in einem weiter.”
Der Roman spielt im Jahr 1990 und beginnt in der Storchenbar in der marokkanischen Stadt Azrou, wo Zina mit ihrer Schwester Khatima lebt und arbeitet. Ihr Ehemann Aziz, ein ehemaliger Luftwaffenpilot, siecht seit seinem Verschwinden vor 18 Jahren in einem geheimen Gefängnis dahin. Zina weiß nichts über seinen Verbleib.
Alles ändert sich, als ein Unbekannter ihr einen Zettel über die Theke zuschiebt. “Dir bleibt gerade noch Zeit, den Neun-Uhr-Bus nach Fez zu nehmen”, sagt er zu Zina, die sich auf eine Reise macht, um endlich Gewissheit zu haben. Sie sehnt sich nach der Zärtlichkeit und Liebe ihres Mannes.
Die Geschichte eines Unrechts wird in sechs einzelnen und miteinander verwobenen Strängen erzählt. Die Handlung erstreckt sich über ein Zeitfenster von 24 Stunden. Häufig erfolgen Rückblicke in die Zeit, als Aziz erstmals vermisst wurde. Khatima erzählt von einer dunklen Vergangenheit. Wie sie und ihre Schwester in die Fänge des Zuhälters Joujou und der Wirtin der Storchenbar, Madame Janeau, geraten.
Das Schicksal von Aziz bildet den Kern der Erzählung. Hier beeindruckt der Roman durch seine Wortmacht. Ohne eine echte familiäre oder sonstige Bindung – abgesehen von seiner Flugbegeisterung – offenbaren die existenziellen Betrachtungen von Aziz eine zerrissene Vergangenheit und eine komplexe Beziehung zur Zeit. Fadel taucht in die groteske Welt des Häftlings Aziz ein, der während der Suche seiner Frau förmlich verdorrt.
“Ich binde ein Seil um meine Hand und hänge es an einen Nagel an der Wand. Ich binde das andere Ende an den Zeh mit dem Rattenbiss und ziehe. Ich blicke auf den Boden unter mir. Nässe. Wasser. Tod.”
Wiederhall der marokkanischen Gesellschaft
Aziz verkörpert die Qualen, die Tausende unter der Herrschaft von König Hassan II. erlitten. Doch “A Rare Blue Bird” geht über diese Erfahrung hinaus und fängt die Konsequenzen für die marokkanische Gesellschaft ein. Dies wird an den beiden Aufsehern Benghazi und Baba Ali exemplarisch deutlich, die die toten Gefangenen auf der alten Festungsanlage von Thami El Glaoui, dem ehemaligen Pascha von Marrakesch, begraben und Aziz bewachen:
“Wir haben nichts, worauf wir neidisch sein könnten. Wir sind keine gewöhnlichen Leute, wie man so sagt. Schließlich verleiht unser Beruf uns Anerkennung und Achtung. Abgesehen davon, dass wir – wie Baba Ali sagt – Essen zu uns nehmen und auf den Tod warten.”
Der Übersetzer Jonathan Smolin verdeutlicht in seinem Vorwort, dass “A Rare Blue Bird Flies with Me” zu einem größeren Diskurs über die Menschenrechtsverletzungen in Marokko gehört und dazu beiträgt, eine verdrängte Vergangenheit aufzuarbeiten.
Dies wurde oft genug in den Memoiren von ehemaligen Gefangenen dokumentiert, wie beispielsweise von Ahmed Marzouki, Mohammed Raiss, Mohamed Nadrani, Abderrahman Kounsi und Mohammed Errahoui. Fadel geht hier riskanter zu Werk. Zur Ergründung des Zerrbilds experimentiert er mit der Zeit, was bisweilen den Lauf der Erzählung unterbricht.
Eine starke Symbolik des Vogels und nüchterne Dualismen destillieren häufig die Substanz der koinzidierenden Geschichten. Zwar wählte Fadel vermutlich absichtlich keinen flüssigen Stil, aber dennoch irritieren die fragmentarische Darstellung und die stakkatoartigen Sequenzen. Dies ist kein Fehler der Übersetzung, aber im arabischen Original nutzt Fadel eine diglossische Sprache zur Unterstützung dieses Stilmittels. Er riskiert allerdings, nicht-marokkanische arabische Leser außen vor zu lassen.
Auch wenn der schmerzhafte politische und geschichtliche Kontext des Buchs vor dem Romanerfolg steht, so öffnet der mutige Bericht Fadels über das moderne Marokko dem englischen Leser doch den Zugang zu einem in der arabischen und französischen Literatur nicht unbekannten Thema.