In Beirut tanzt die Schickeria auf Ruinen

Sportwagen zwischen Bürgerkriegstrümmern und Designermode an der Strandpromenade – Angeberei gehört in Beirut zum guten Ton. Gefeiert wird ab drei Uhr morgens in den legendären Clubs der Stadt.

Wer sich im Pool des Beiruter Luxushotels “Phoenicia” auf den Rücken legt, zu leiser Clubmusik und bei einer leichten Brise vom Meer, der schaut in ein tiefes Loch. Das Loch klafft hoch oben im einstigen Nachbarhotel “Holiday Inn”. Es ist der Krater einer Mörsergranate aus dem Bürgerkrieg, der Beirut von 1975 bis 1990 in einen christlichen und einen muslimischen Teil zerriss.

Die Hotels an Beiruts malerischer Mittelmeerbucht waren bevorzugtes Angriffsziel. Das ehemalige Hotel “Holiday Inn” steht als eines der letzten noch als Ruine da. Wer die Hauptstadt des Libanon besucht, muss sich auf solch denkwürdige Aussichten einstellen.

Hotels wie das “Phoenicia”, eines der ehrwürdigsten der Stadt, vor 51 Jahren eröffnet, waren einst Schauplatz des mondänen, europäischen Dolce Vita des Orients. Und sind es, nach dem Bürgerkrieg, auch heute längst wieder. Hier checken Größen ein wie Shakira, Pit Bull oder auch die Red Hot Chili Peppers, die Konzerte in der Stadt geben.

Vor eineinhalb Jahren ließ sich Angelina Jolie als Uno-Botschafterin der Flüchtlingshilfe inkognito ins Hotel geleiten. Im Frühjahr 2012 war unter den VIP-Gästen auch Kofi Annan, unterwegs auf schwieriger Friedensmission im Nachbarland Syrien.

Bürgerkrieg und Badestrände

Beirut ist eine Stadt der Überblendungen. Große Geschichte und schwierige Gegenwart, Bürgerkrieg und Blingbling, Badestrände und Berge, alles ist irgendwie miteinander verwoben. Und seit Beginn des Arabischen Frühlings wird auch im Libanon vereinzelt wieder geschossen, für die Grenzgebiete zu Syrien und Israel gilt eine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes.

Und doch lohnt Beirut einen Besuch. Gerade für “Orient-Einsteiger” bietet die Stadt eine ebenso schnelle wie faszinierende Reise durch die Zeiten und Welten. Und das, wenn man will, sogar zu Fuß.

Obwohl es ein bisschen Mut braucht, diesen Rundgang anzutreten. Vorm Hoteleingang stehen erst mal Soldaten – wie überall in der Stadt – und erteilen Touristen barsch eine Warnung: “Aufpassen! Das hier ist nicht Amerika oder Deutschland!” Gemeint ist aber nur der mörderische Verkehr.

Weil es im ganzen Land kaum öffentliche Verkehrsmittel gibt, ist das Auto das Transportmittel der Wahl. Weitgehend ungeregelt wälzt sich die Lawine sechsspurig durch die Stadt und ans Meer. Mangels Ampeln haben die Beiruter eine gebieterische Handbewegung parat. Damit stoppen sie das Gebrause für einen Moment.

Kirchen, Moscheen und Jugendstil

Und dann weiß man nicht, wohin man zuerst schauen soll. Zwischen glitzernden Hochhäusern ducken sich malerische Villen im osmanischen “Jugendstil” der vorigen Jahrhundertwende.

Eine Kirche schiebt sich hinter der nächsten hervor, wobei sich die eine bei näherem Hinsehen als Moschee entpuppt und zwei weitere dem gleichen Heiligen gewidmet sind, aber zu unterschiedlichen christlichen Glaubensrichtungen gehören. Überhaupt gibt es unendlich viele Kirchen und Moscheen, dank der 18 Religionsgemeinschaften im Land.

Europäische Urlauber sind Exoten

Die beste Sprache, um nach dem Weg zu fragen, ist – neben Arabisch – Französisch. Die Stadt schmückt sich seit jeher selbstbewusst mit Attributen wie “Paris” oder auch “Schweiz des Orients”. Es locken Einkaufsviertel, Kasinos und – im Vergleich zu anderen arabischen Ländern – lockere Sitten.

Manche kommen wegen des Bankgeheimnisses – oder noch anderer Geschäfte. Die Porsche-Dichte in der Innenstadt ist immens, ebenso die der Luxusyachten im Hafen, arabische Angeberei gehört zum guten Ton. Auch unter Touristen. Europäische Urlauber gelten bisher als Exoten.

Erst in letzter Zeit beginnt sich das Land auf sein wertvollstes Gut zu besinnen: Geschichte, Kultur und Natur. Vom Libanon aus, dessen Gebirge mehr als 3000 Meter steil aufragen, reicht der historische Blick viel tiefer als nur in die Einschusslöcher der jüngsten Vergangenheit. Die Geschichte geht zurück bis zu den alten Ägyptern, Phöniziern, Griechen und Römern.

Am berühmten Märtyrerplatz

Dann stehen wir an einem großen Parkplatz in der Stadtmitte. Was ist hinter dem Bauzaun? “Das ist unser berühmter Märtyrerplatz”, belehrt uns der Stadtführer. Er braucht einen Moment, um unsere Frage zu verstehen. Westliche Touristen erwarten immer, dass sich alles auf den ersten Blick erklärt.

“Dort hinten wuchert eine phönizische Ausgrabung zu”, er deutet erst in die eine Richtung des Platzes, dann in die andere. Da thront die Al-Amin-Moschee, als sei sie schon immer da gewesen. Doch sie wurde erst 2007 eingeweiht.

“Bauherr des imposanten Gebäudes mit den blauen Kuppeln war Rafik al-Hariri, bis 2004 libanesischer Ministerpräsident”, sagt der Stadtführer. 2005 starb al-Hariri durch ein Autobombenattentat, das nicht nur 22 weitere Menschen das Leben kostete, sondern dem Land nach dem Bürgerkrieg ein weiteres “Davor” und “Danach” bescherte.

Und das große Zelt vor der Moschee? “Nein, das ist al-Hariris Ruhestätte.” Der Nationalheld ist bestattet unter einem opulenten Bett aus schwer duftenden, weißen Rosen, umgeben von sieben weiteren Opfern des Attentats. Vom Band tönen leise Trauer-Korangesänge. Ein sehr orientalischer Gedenkort.

An der Straße, wo al-Hariri starb, vor dem eingangs erwähnten Hotel “Phoenicia”, erinnert ein weiteres Denkmal an ihn. Wer die Bombe legte, ist bis heute nicht geklärt. Auch das, deutet der Stadtführer an, wäre einen zweiten Blick wert, ist aber eine andere Geschichte.

In der Fußgängerzone fahren nur gepanzerte Limousinen

Rafik al-Hariri, Held des Libanon: Der Selfmade-Milliardär, Wohltäter und Politiker wird auch kritisch gesehen. Unter anderem wegen des Wiederaufbaus der historischen Innenstadt Beiruts nach dem Krieg.

Al-Hariris Firma Solidere erwarb in einem Schnellverfahren die Grundstücke von Zigtausenden Kleinbesitzern und zog binnen weniger Jahre ein komplettes Viertel hoch – nach historischen Plänen, täuschend echt. Doch das Schweigen in den französisch anmutenden Straßen rund um den Place de l’Étoile ist beredt.

Das Viertel ist eine blank gewienerte Kopie, das Zifferblatt des Uhrenturms schmückt das Luxusuhrenlogo “Rolex”. In der Fußgängerzone dürfen nur die gepanzerten Limousinen der Minister fahren.

Ein Einkaufszentrum nach Mailänder Art

Einen ähnlichen Eindruck hinterlassen die “Beirut Souks”. Was nach orientalischen Gewürzen, nach Gewimmel und Menschen in langen Gewändern klingt, ist in Wirklichkeit ein Einkaufszentrum nach Mailänder Art. Hier gibt es alles, von Prada bis Hennes & Mauritz, nur keinen Basar.

Das lebendige, moderne Beirut findet man dagegen rund um die drei Universitäten, in Studentenkneipen, Galerien und kleinen Geschäften der “Hamra”, der traditionellen Einkaufsstraße.

Im Hafenviertel haben sich zwischen Ruinen, Baustellen und verwohnten Altbauten Designer eingerichtet, die alles bieten von Haute Couture bis zu gruftigen Kreationen. Viele sind lange in London gewesen, in Mailand oder Amsterdam. Wie in Europa, so ist es auch unter Beiruts Designern Mode, sich zwischen Ruinen zu präsentieren. Wo es zu schön wird, ziehen sie weiter.

Geschichten beim Rauchen einer Shisha

Wer Beirut erkundet, bleibt nicht lange allein. Groß ist das Bedürfnis der Bewohner, zu erzählen, und gern geben sie ihre eigene Geschichte her, damit ihre Gäste besser verstehen, was sie sehen.

Am schönsten trifft man sich an der Corniche. Die frisch sanierte Promenade ist am Wochenende der Lieblingsplatz der Beiruter Familien, die abends zum Eisessen, Angeln, Radfahren oder einfach zum Reden herkommen. Oder man besucht eines der ungezählten Restaurants, Bars und Cafés – am besten zum Essen.

Denn Essen ist im Libanon verbindendes Element. Bei einer Shisha, der Wasserpfeife, und den allgegenwärtigen Mezze aus tausenderlei libanesischen Vorspeisen hört man dann tausenderlei Geschichten. Möglich, dass man auch mal auf Deutsch angesprochen wird. Es gibt Rückkehrerfamilien, die nach einem Gastarbeiterleben in Deutschland hier wieder Fuß gefasst haben.

Überlebende und Überlebenskünstler

Der Bürgerkrieg war es, der – neben dem traditionellen Bildungswillen der Oberschicht – die Menschen in alle Welt verstreute. Die wiederkamen, haben alle etwas mitgebracht, ein bisschen Europa, Amerika, Weltbürgertum oder etwas, was wenigstens so aussieht.

Und einen Satz wiederholen sie alle wie ein Gebet: “We are survivors.” Gemeint ist das im doppelten Wortsinn. Libanesen sehen sich sowohl als Überlebende wie auch als Überlebenskünstler in allen Bereichen.

Überhaupt hat der Libanon fast mehr mediterrane als orientalische Seiten, nicht nur in der Zwei-Millionen-Stadt Beirut, in der man schon mal über römische Thermen stolpert.

In Hafenstädtchen wie Byblos, gut eine Autostunde von Beirut entfernt, fühlt man sich zwischen Hafenrestaurants, Ausflugsbooten und Ausgrabungsstätten nachItalien oder Griechenland versetzt – bis einen die Rufe der Imame, die allgegenwärtigen Militärposten oder auch die aktuellen Nachrichten zurück in die Wirklichkeit des Libanon holen. Morgen kann alles schon wieder ganz anders sein.

Für die Clubs ist Beirut weltweit bekannt

Vielleicht ist das der Grund, warum in Beirut so exzentrisch bis zum Morgengrauen gefeiert wird. Am besten in einem der Clubs, deretwegen Beirut einen weltweiten Ruf hat.

Wobei man eines wissen muss: Geld spielt keine Rolle, man hat es. 100 US-Dollar oder mehr sind der normale Preis für einen Clubabend – pro Person, in der Gruppe, die nur einen Tisch bekommt, wenn gemeinsam genug geordert wird.

Die angesagtesten Clubs befinden sich in den Industrievierteln. Wie das “B018” zum Beispiel – der Club liegt unter der Erde, tagsüber sieht er aus wie ein Parkplatz. Erst spät in der Nacht öffnet sich das stählerne Dach und gibt den Blick auf den Sternenhimmel von Beirut frei – falls jemand hinschaut.

Erst ab drei Uhr morgens wird es richtig voll. Nebenan tasten gleißende Strahler eine Menschenmasse ab, die dicht gedrängt im obersten Geschoss eines Industriekubus steht. Das Gebäude hat kein Dach, ab und zu fährt ein Wind in die Menge, die drängelt und wippt und klatscht, die mitsingt und trinkt im hämmernden Rhythmus der internationalen elektronischer Discomusik.

Frei für eine Nacht

“White” heißt der Club, “weiß”, und sein Claim wird gegen halb zwei in der Nacht an die riesigen Leinwände geworfen, wenn die Party beginnt: “Wir müssen uns befreien von Neid, Eifersucht, Eltern, Lehrern, Konsum, Vorurteilen, Politik, Nachrichten, Religion … um frei zu sein. Das ist Beirut!”

Weiß ist die Farbe der Unschuld oder auch des unbeschriebenen Blattes. Aber geht das: ein Leben ohne Geschichte – an einem Ort wie Beirut? Für eine Nacht offenbar ja.

Draußen am Eingang führt der Weg vorbei an vielen Maserati, Porsche, Rolls-Royce und Hummer, bewacht von Kerlen mit finsteren Mienen und vom Publikum hemmungslos bestaunt. Eine Ausstellung goldener Kälber: Auch das ist Beirut.

Die Rückfahrt führt durch das Industriegebiet, vorbei an Kriegs- und Industrieruinen, die sich mattgrau von Beiruts schimmernder Küstenlinie abheben. Sie scheint ins Endlose zu führen, ins Grenzenlose. Aber das ist, wie so vieles hier, nur eine Illusion.”Le Vendôme Beirut”.

Die Reise wurde unterstützt von den Hotels “Phoenicia Beirut” und “Le Vendôme Beirut”.