Ein libanesisches Dorf im Schockzustand

Das christliche Dorf al-Kaa trauert um die Todesopfer einer Serie von Selbstmordattentaten. Die Lage der syrischen Flüchtlinge in Libanon droht sich weiter zu verschlechtern. Der Betonboden vor Mahers kleinem Café in al-Kaa ist mit Kalkflecken übersät. «Überall, wo ihr Kalk seht, war Blut», sagt Maher. Der Kalk wird zur Desinfektion verwendet. Auf dem Dorfplatz vor dem Café reihen sich Militärfahrzeuge aneinander. Sichtlich aufgewühlte Bewohnerinnen und Bewohner, die Frauen alle in Schwarz, bewegen sich zwischen den vielen Soldaten zum Gemeindesaal der Kirche, wo später unter Schreien und Schluchzen die Särge hineingetragen werden. In der Mitte des Platzes vor der Kirche erhebt sich die Statue des Dorfheiligen Mar Elias, in der einen Hand ein Schwert, die andere mahnend zum Himmel erhoben.

Schlimmeres verhindert?

«Mar Elias hat uns beschützt. Dank ihm sind nicht mehr Leute ums Leben gekommen», sagt eine Bewohnerin. Acht Selbstmordattentäter haben sich hier in die Luft gesprengt, vier in der Nacht auf Montag, und vier weitere am Abend danach, als die Vorbereitungen für die Beerdigung der Todesopfer der ersten Runde im Gang waren. Fünf Bewohner wurden getötet und über 20 verletzt, zwei von ihnen schwer. Der erste Attentäter liess seinen Sprengstoffgürtel detonieren, als er von einem Bewohner konfrontiert wurde, die nächsten drei, als Bewohner zur Hilfe herbeieilten und Soldaten auf die Attentäter schossen.

Die Attentäter dürften andere Pläne gehabt haben, die noch mehr Opfer gefordert hätten. Sicherheitsverantwortliche haben die Vermutung geäussert, dass die Terroristen gar nicht Kaa im Visier hatten, sondern weiter in die nahe gelegene Hizbullah-Hochburg Baalbek oder gar nach Beirut gelangen wollten. Die erste Gruppe flog auf, und die zweite sprengte sich demnach auch im Dorf in die Luft, weil es nach den ersten Attentaten abgeriegelt wurde. Doch der Schaden ist auch so beträchtlich. Das Dorf ist in Schock und Trauer, die Beziehungen zu den Tausenden rund 30 000 syrischen Flüchtlingen in der Nachbarschaft sind angespannter denn je.

Die Syrer müssten hier weg, man habe ihnen geholfen, und das sei der Dank – so und ähnlich äussern sich viele Gesprächspartner. Zahlreiche Bewohner tragen Pistolen und rufen zur Selbstverteidigung. Ein junger Mann, unter Zwanzig, mit ärmellosem Shirt und Tattoos, wirft sich in Pose und erklärt, er verteidige das Dorf gegen den IS. Waffen gebe es genug. Wafa, eine junge Frau, sagt zornig: «Wenn sie fünf von uns getötet haben, wünsche ich ihnen, dass fünfhundert von ihnen umkommen.» Die junge Frau zündet sich eine Zigarette nach der anderen an. Ihre Tante Aziza versucht sie zu beschwichtigen. «Du kannst nicht alle in einen Topf werfen», meint sie. Wafa sagt, sie vertraue niemandem mehr.

Bisher ist nichts über die Identität oder Herkunft der Terroristen bekannt. Geheimdienstvertreter haben lokalen Medienvertretern gesagt, die Attentäter seien vermutlich über die syrische Grenze und nicht aus den Lagern gekommen. Dennoch haben die Sicherheitskräfte über 200 Syrer verhaftet, die keine Aufenthaltsbewilligung haben. Eine solche ist in Libanon für Syrer nicht mehr leicht erhältlich, das Land ist mit den Flüchtlingen überfordert. Etwa 1,5 Millionen oder ein Drittel der Gesamtbevölkerung Libanons sind Syrer.

Die Attentate dürften im ganzen Land zu den bestehenden Ressentiments gegen Syrer beitragen, die schon vor dem Krieg wegen der Zeit der syrischen Besatzung Libanons verbreitet waren und mit den Flüchtlingsströmen noch zunahmen. Die Camps bei al-Kaa sind seit dem Attentat abgeriegelt, wohl auch zum Schutz der Flüchtlinge. Der Bürgermeister Shawki Tawm erinnert, dass die Syrer im Krieg mit Israel 2006 die libanesischen Flüchtlinge auch mit offenen Armen empfangen hätten. Aber mit dieser Sicht scheint er derzeit eher einsam dazustehen.

Ressentiments gegen Syrer

«Wir sind in einer komplizierten Lage», sagt Pater Eliane Nasrallah. «Wir haben einerseits die Märtyrer und Verletzten unseres Dorfes, und andererseits die humanitäre Situation der Flüchtlinge.» Die Kirche hat sich bisher für die Syrer eingesetzt, sie in ihre Wohlfahrtsprogramme für die lokale Bevölkerung mit einbezogen. In der jetzigen Situation könne er den Leuten, die trauerten und aufgebracht seien, nicht widersprechen. Er könne ihnen nur beistehen und beten. Er will aber an den Wohlfahrtsprojekten festhalten. Er 

. Er wünscht sich dafür mehr Unterstützung – und dass die Regierung sich endlich des Flüchtlingsproblems annehme.

Doch diese ist paralysiert wie eh und je, das Land hat immer noch keinen Präsidenten. Keine der rivalisierenden christlichen Parteien hat sich bisher um das vom Staat vernachlässigte Dorf an der Peripherie gekümmert. Anlässlich der Trauerfeier besuchen mehrere Minister das Dorf. «Sie kommen, um sich fotografieren zu lassen», sagt Wafa. Al-Kaa ist liegt zwischen dem sunnitischen Dorf Arsal, das einst von Rebellen und Jihadisten aus Syrien infiltriert war, und dem schiitischen Hermel, wo der Hizbullah Rückhalt geniesst, der für das Regime Asad kämpft. Al-Kaa lag zwischen den Fronten, als der Krieg über die Grenze schwappte. Seit der Hizbullah und die libanesische Armee das Grenzgebiet unter ihre Kontrolle gebracht haben, ist es ruhiger geworden – bis die Attentäter kamen.

Bewohner erinnern im Gespräch an ein Massaker, das sich 1978 im Dorf ereignete, das der syrischen Armee zugeschrieben wird. Damals im libanesischen Bürgerkrieg verliefen die Frontlinien anders, heute sehen die Bewohner im syrischen Regime das kleinere Übel, weil sie sich vor Jihadisten fürchten. Zugleich sehen sie eine Kontinuität in den Ereignissen, die ihre antisyrischen Ressentiments schüren. Zur Ruhe kommt das Dorf seit Jahrzehnten nicht, nicht nur wegen Syrien: Es durchlebte einen brutalen Bürgerkrieg, israelische Luftangriffe, Attentate, Krieg im syrischen Nachbarland. «Unser Problem ist, wir uns nie erholen können», sagt Aziza. «Und jedes Mal, wenn etwas geschieht, kommt den Leuten alles wieder hoch.»