Von der Kriegsfront an die Medienfront: Julian Reichelts Aufstieg an die Spitze der Bild

Bild Digital-Chefredakteur Julian Reichelt im Newsroom Foto: Fabian Matzerath

Bild-Digitalchefredakteur Julian Reichelt ist zum Vorsitzenden der Bild-Chefredaktionen ernannt worden. Damit kann man nun offiziell festhalten, dass der 36-Jährige – wenn auch nicht im Rang eines Herausgebers – der neue Kai Diekmann bei Bild ist, als „Hüter der Marke“ von Deutschlands größter Zeitung. In der Medienlandschaft ist der Ex-Kriegsberichterstatter Reichelt keine alltägliche Figur.

Alles, was man über Julian Reichelt wissen muss, hat er selbst in wenigen Worten mal in einem Gespräch gesagt, das er, Kai Diekmann und die Bild-Print-Chefredakteurin Tanit Koch für das Mitarbeitermagazin von Axel Springer führten: „Das einzig wichtige Kriterium für Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, ist, ob man sich vorstellen kann, zusammen im Schützengraben zu sein. Das ist mein Kriterium für Menschen.“

Das ist eine Aussage, die man so ganz sicher nicht von vielen deutschen Chefredakteuren zu hören bekommen würde. Vielleicht sogar von keinem einzigen außer Julian Reichelt. Es war seine Zeit als Kriegsreporter, die ihn zu dem gemacht hat, der er heute ist. Das sagte er auch einmal im Gespräch mit MEEDIA: „Das war eine Erfahrung, die so fundamental und existenziell und bereichernd in vielerlei Hinsicht war, dass sie einen natürlich prägt und definiert. Krieg ist etwas, das alles andere für immer überlagert. Es prägt einfach den Blick auf die Dinge. Es prägt das Verständnis von Loyalität, von Zuverlässigkeit, von Pflichtbewusstsein, von Anstand. Wer sich in einem Krieg anständig verhalten kann, ist ein anständiger Mensch. Das wird zum Maßstab, wenn man das so oft erlebt hat wie ich.“

Reichelt, der Mann mit den Maßstäben, blickt auf eine ungewöhnliche Bild-Karriere zurück. Er kam 2002 als Volontär zur Springer-Zeitung. Er berichtete als Reporter aus vielen Ländern und Krisenregionen: Afghanistan, Georgien, Thailand (nach dem Tsunami), dem Irak, Sudan und Libanon u.a.. Es gibt zahlreiche Aufnahmen von ihm mit Stahlhelm und Panzerweste in wüstenbraun. Das ist die Welt, die ihn geprägt hat. Mit einem schicken iPhone brauchte man ihm nicht zu kommen. Der Auslandskorrespondent bevorzugte ein Blackberry, für ihn „die Kalaschnikow unter den Smartphones“.

Nie sei es ihm um Abenteuerlust oder den Krieg an sich gegangen, wie er einmal in einem Interview sagte, sondern um Grenzerfahrungen: „In solchen Situationen kann man Menschen sehr nahe kommen und erfahren, was sie wirklich bewegt. Viele Dinge werden unwichtig – plötzlich geht es nur noch ums nackte Überleben.“

Julian Reichelt ist jemand, der sich selbst als Falke sieht und keinesfalls als Taube. Allzu friedensbewegte Zeitgenossen betrachtet er als naiv. Er glaubt, dass Frieden und Sicherheit Folgen einer Politik der Stärke und Konsequenz sind. Und wenn Julian Reichelt etwas glaubt, dann glaubt er sehr fest. Für ihn sind Loyalität und Anstand wichtige Begriffe, die mit Leben zu füllen sind. Reichelt hat eine Haltung, und er scheut nicht davor zurück, sie öffentlich mit klaren Worten zum Ausdruck zu bringen. Ob das Ärger gibt, scheint ihm egal. Oft sucht er den Ärger geradezu. Damit passt er ideal ins Beuteschema der Talkshows, wo er sich bereits in politischen Runden beachtlich schlug und künftig häufiger zu sehen sein könnte. Reichelt, daran besteht kein Zweifel, hat eine Agenda.

Etwa wenn er in flammenden Kommentaren die Zögerlichkeit des Westens im Syrien-Krieg anprangert. Oder wie jüngst, in einem Kommentar gegen jeden Mainstream die deutsche Kritik am Einreiseverbot für sieben muslimisch geprägte Länder in die USA als verlogen geißelt: „Zwischen Deutschland und der Türkei gibt es einen Deal, der Trumps Einreisestopp in puncto zynischer Unmenschlichkeit bei Weitem übertrifft“, schrieb Reichelt da, und er meint natürlich den so genannten Flüchtlingsdeal, den die Bundesregierung ausgehandelt hat. Weiter schreibt er: „Das Ergebnis: Die Türkei hat die Grenze zu Syrien so abgeriegelt, dass es für die Opfer und Geschundenen des Assad-Regimes keine Zuflucht mehr gibt. Wer versucht, aus Syrien in die sichere Türkei zu flüchten, wird an der Grenzanlage erschossen. Das ist die Art von ‚Einreisestopp’, den unsere Bundesregierung ausgehandelt hat.“

Das sind harte Worte, die dahin gehen, wo es wehtut. Wie oft, hat er dabei auch recht, und man fragt sich, warum solche Dinge nicht häufiger von denen thematisiert werden, die Leitmedien-Anspruch am lautesten für sich proklamieren. Sein Blick ist der Blick des Soldaten, desjenigen, der vor Ort ist und der erkennt, was getan werden müsste. Politische Zwänge, „schmutzige Kompromisse“, „Deals“ das sind Dinge, die Julian Reichelt verachtet, gegen die er angeht und an denen er bisweilen beinahe zu verzweifeln droht. In der Welt des Soldaten geht es um Leben und Tod und nicht um Umfragewerte. Diejenigen, die ihm Zynismus vorwerfen, liegen gerade darum falsch. Reichelt handelt als Medienmacher nicht zynisch. Wenn er einen solchen Kommentar schreibt oder wenn er auf der Bild.de Startseite eine Stunde lange eine ABC-Alarmsirene tönen lässt, um an die Gasopfer in Syrien zu erinnern, dann tut er das nicht, aus Effekthascherei oder weil er damit Klicks holen willen, sondern weil er das wirklich für wichtig hält. Man ahnt, dass solche Statements an der Grenze zum Aktivismus bei Vermarktern nicht unbedingt auf ungeteilte Unterstützung stoßen, weshalb die Berufung von Reichelt zum Primus inter Pares der Bild-Macher aus Sicht des Verlages auch eine mutige Entscheidung ist.

Zur soldatischen Sicht auf die Welt gehört auch, dass er sehr klar in Freund und Feind unterteilt. Der NSA-Whistleblower Edward Snowden ist für ihn ein Verräter. Punkt. Glenn Greenwald, den Journalisten, der maßgeblich an den Snowden-Enthüllungen beteiligt war, bezeichnete er auf Twitter als „pöbelnden Ideologen“. Wie für sein erklärtes Vorbild Kai Diekmann ist Twitter für Reichelt der Kanal der Wahl, um schnell Dampf abzulassen und sich mitzuteilen. Dabei geht es oft aber nicht nur um die großen Fragen von Krieg und Frieden. Wenn Focus Online mal wieder bei Bild.de abgeschrieben hatte, bezeichnete er den dortigen Chefredakteur Daniel Steil (ein früherer Bild-Kollege) als „digitalen Hühnerdieb“. Die branchenübliche Phrasendrescherei ist ihm fremd.

All dies wäre aber vermutlich nicht ausreichend, um einen Laden wie Bild.de nun schon mehrere Jahre erfolgreich zu führen. Was Reichelt neben seiner soldatischen Haltung, seinen politischen Überzeugungen und seiner Streitlust auszeichnet, ist ein tiefes Verständnis für technische Entwicklungen. Er hat Bild.de konsequent als digitale Plattform ausgerichtet, frühzeitig die Bedeutung von Facebook, Live-Videos, Videos allgemein erkannt. Unter seiner Führung ist Bild.de die wohl experimentierfreudigste Digital-Redaktion der Republik geworden. Jede neue Technik wird angenommen und auf ihre journalistische Anwendbarkeit hin überprüft.

Es war eine überraschende und durchaus riskante Entscheidung, Reichelt im Jahr 2014 mit Anfang 30 zum Chefredakteur des großen Digitaldampfers Bild.de zu machen. Ein junger Kriegsreporter, so ganz ohne Führungserfahrung. Der langjährige Bild-Chef Kai Diekmann erkannte das Potenzial in ihm und beschloss nach seiner Lehrzeit im Silicon Valley, auf den Nachwuchs-Mann zu setzen. Nun ist Julian Reichelt bei Bild „ganz oben“. Er ist ein Medienmacher, der die Branche in den kommenden Jahren hierzulande entscheidend prägen wird.