Es ist geschafft – nach fast zweieinhalb Jahren hat der Libanon wieder ein Staatsoberhaupt. Die Reaktionen reichen von grenzenloser Begeisterung bis zu großer Unsicherheit. Die chaotische Wahl wird zum Gespött. Beobachtungen, zusammengetragen von Jan Altaner, Diana Beckund Bodo Straub.
Flaggen, die begeisterte Fans aus hupenden und gerne eine Spur zu schnellen Autos halten (sofern sie denn kein Stau aufhält), sind in Beirut Alltag. Vor allem jedoch Flaggen großer Fußballnationen wie Brasilien oder Deutschland. Am vergangenen Montagabend, zwischen Feuerwerk und Schüssen, wurden dagegen die Parteiflaggen ausgepackt. Allen voran die orangeFree Patriotic Movement (FPM)-Flagge der Partei des frisch gewählten Präsidenten Michel Aoun. Doch auch die Flagge der Lebanese Forces (LF),der Partei seines ehemaligen Kontrahenten und mittlerweile Verbündeten Samir Geagea, war neben der gelben Fahne der Hisbollah und der Nationalflagge präsent.
Auf dem Märtyrerplatz im Zentrum Beiruts versammelten sich abends die Anhänger_innen dieser Parteien, auch hier wehten ihre Flaggen nebeneinander – in Sichtweite der sunnitischen al-Amin-Moschee, deren Grundstein einst Rafiq al-Hariri legte, Ex-Premierminister und Vater des heutigen Anwärters auf das Amt. Gebran Bassil sprach, Aouns Schwiegersohn, Vorsitzender derFPM und Außenminister; libanesische Popstars traten auf, gratulierten dem Libanon und bedankten sich bei Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah, dem Verbündeten Aouns. Sicherheitskräfte verteilten Baklava an Kolleg_innen und vereinzelt konnte man Aouns Porträt aufgedruckt auf orangen Halstüchern entdecken.
In einem „Kuhhandel“, einer Paketlösung, vereinbarten vergangene Woche allen voran Hariri und Aoun die Wahl Aouns zum Präsidenten – und sicherten Ersterem das Amt des Premierministers zu. Nach 44 erfolglosen Versuchen seit Mai 2014, die in der Regel an mangelnden Quoren scheiterten, wurde Aoun am Montag erwartungsgemäß gewählt. Doch auch diese Wahl lief nicht reibungslos ab.
Eine chaotische Wahl
Schauplatz Sassine im christlichen Osten Beiruts am Montagmorgen, Stunden vor der Sitzung: Auf dem abgesperrten Verkehrsknotenpunkt tauchen weiße Plastikstühle und ein riesiges Aoun-Plakat auf. Eine Apothekerin in einem nahen Laden blickt skeptisch in die Zukunft: „Natürlich hoffen wir, dass Aoun als Präsident Gutes tun wird, aber wir müssen abwarten, was er erreichen kann.“
Der Platz füllt sich, orange Shirts und Kappen werden verteilt, eine Leinwand verspricht die Liveübertragung aus dem Parlament. Es gibt keinen Gegenkandidaten.
Dann die Abstimmung, die fast schon überraschend pünktlich beginnt: Jeder einzelne Stimmzettel wird vorgelesen, ein paar wenige Unterstützer_innen klatschen oder rufen, wenn Aouns Name fällt.
Knapp schrammt Aoun am Erfolg im ersten Wahlgang vorbei, mit 84 von 86 notwendigen Stimmen. Auf einigen Zetteln steht „The Cedar Revolution continues in the service of Lebanon“ – angeblich abgegeben von Kataebabgeordneten. Auf einem anderen steht der Name der Sängerin Myriam Klink, von der zuvor noch Bilder im orangen Bikini mit FPM durchs Netz geisterten, sowie des Abgeordneten Gilbert Zwein.
Im zweiten Wahlgang reicht Aoun jetzt die einfache Mehrheit von 65 Stimmen. Doch die Wahl wird torpediert. 128 Stimmzettel tauchen auf, einer mehr, als Abgeordnete anwesend sind. Die Menge bleibt still, keine Erregung. Ein zweites Mal dasselbe. In einer Geste der Machtlosigkeit hebt ein Anhänger auf dem Sassine-Platz die Arme und blickt hilfesuchend um sich. Ein junger LF-Anhänger begleitet seinen Freund mit FPM-Flagge. Er sei nicht für Aoun, aber nunja, in der jetzigen Situation sei die Wahl notwendig, sagt er und zuckt mit den Schultern.
Ein drittes Mal also. Erneut tauchen ungültige Stimmzettel auf – Zorba, der Grieche. Und Strida Geagea, Abgeordnete und Ehefrau von Samir Geagea, der zumindest bis Ende 2015 Anspruch auf das höchste Amt anmeldete, bevor er sich mit Michel Aoun aussöhnte.
Aber die Stimmen für Aoun summieren sich, die letzten zehn Zettel zählt die Menge gemeinsam runter – wie die letzten zehn Sekunden an Silvester. Bei 65, der erforderlichen Anzahl für die Präsidentschaft im zweiten Wahlgang, ist der ganze Platz nur noch orange.
Libanons Zeitungen und der Präsident: Die einen sagen so, die anderen…
Am Dienstagmorgen erwacht der Libanon zum ersten Mal seit 29 Monaten mit einem Präsidenten – und zu einem Platzregen, der Beirut über Stunden unter Wasser setzt. Aber klar: Überall ist die Wahl das Thema Nummer eins. Die Zeitungen im politischen Spektrum zu verorten, fällt an diesem Tag leicht. Al-Akhbar, eine der größten libanesischen Tageszeitungen, die Hisbollah nahesteht, titelt: „Der Präsident der populären Mehrheit“. Zu sehen ist jedoch nicht nur ein Foto des Präsidenten Michel Aoun. Auf der rechten Seite, dort wo das arabische Wort für „Präsident“ steht, findet sich ein Porträt Hassan Nasrallahs, das sogar etwas größer ist als das Michel Aouns. Berichten andere libanesische Zeitungen bereits auf ihrer Titelseite von Aleppo oder dem Vordringen der irakischen Armee nach Mossul, ist auf der Seite von al-Akhbarausschließlich für Nasrallah, Aoun und Gebran Bassil Platz. Letzterer wird mit den Worten zitiert: „Nasrallah ist ein Partner Aouns in der Schaffung des Sieges“. Hariri wird nur einmal erwähnt, als es heißt: „Hisbollah wird Hariri nicht zum Premierminister ernennen“. Über 13 Seiten lang liegt der Fokus von al-Akhbarausschließlich auf der Wahl, Nasrallah, Aoun und den Begleitumständen der Wahl. Auch Auszüge der Rede Gebran Bassils vom Abend zuvor liegen bei. Die Nähe von al-Akhbar zuHisbollah und FPM wird hier ganz offenbar.
Ein völlig anderes Bild ergibt sich bei der Betrachtung der Zeitung al-Mustaqbal, die demFuture Movement des womöglich baldigen Premierministers Hariri angehört. Ihre Überschrift lautet: „Aoun ist Präsident: Ta’if, Arabertum und die Entfernung von sich selbst“. Erwähnt wird, dass Aoun zwar von internationaler Seite akzeptiert wird, er sich aber gleichzeitig von alten Positionen entfernt. Dass ein großer Teil der libanesischen Bevölkerung, namentlich viele Christ_innen und Hisbollah-Anhänger_innen, Aouns Präsidentschaft befürwortet, sucht man hier vergeblich. Allein die Gestaltung der Titelseite spricht erneut Bände: Unter der bereits erwähnten Überschrift sieht man Aoun, wie er von Gardisten umringt über den roten Teppich in den Präsidentenpalast schreitet. Sein Gesicht ist zu Boden gewendet und nicht zu erkennen. Er wirkt alt und allein.
Titelseite der al-Mustaqbal am Tag nach der Wahl – Download: http://app.flipedition.com/books/show/almustaqbal/01-11-16
Es wurde wohl bewusst ein ungünstiges Foto gewählt, völlig im Gegensatz zu den anderen großen libanesischen Tageszeitungen wie an-Nahar, as-Safir oder ad-Dyar. Was sich außer dem Artikel auf der Titelseite finden lässt, ist aber noch interessanter. Fünf kürzere Artikel, die alle auf späteren Seiten fortgesetzt werden, handeln von Aleppo, dem Vorstoß der irakischen Armee auf Mossul, einem emiratischen Urteil gegen libanesische Anhänger der Hisbollah, saudi-arabischer Innenpolitik und dem Expansionsstreben Irans, das seine natürlichen Grenzen zwischen dem Roten und dem Mittelmeer sehe. Der Präsidentenwahl wird damit nur sehr wenig Raum geboten, eingebettet in negative Berichte über die Hisbollah und Iran.
Denn auch wenn Hariri die Wahl Aouns letztlich unterstützte: Die Entwicklung ist für ihn kompliziert. Politische Kommentatorenbetrachten die letzten politischen Ereignisse als eindeutige Schwächung Saad al-Hariris, dessen sunnitischer Block nun zerfallen könnte, da sich Ashraf Rifi, ein immer beliebter werdender sunnitischer Politiker, gegen Aoun positioniert und „friedlichen Widerstand“ ankündigt.
In den sozialen Medien wurde sich während der Wahl vor allem über Aouns Alter lustig gemacht („Sie wählen zum dritten Mal. Das heißt, Aoun ist gefährlich nah am Herzinfarkt”) und über das Wahlsystem beschwert:
Der großartige libanesische Blogger Elie Fares griff die schief gegangenen Wahlgänge in einem eigenen Beitrag auf und kommentierte: „Die Aussage, das libanesische Parlament hat bei der Präsidentschaftswahl exakt demonstriert, wie unfähig es ist, ein Land zu regieren, ist eine Untertreibung.”
Ein wirklich interessanter Longread auch auf dem libanesischen Politik-Blog Moulahazat: „How Michel Aoun became the president” zeigt die verschiedenen Manöver der letzten Monate und Jahre, mit denen sich der ex-General Schritt für Schritt den Weg in den Präsidentenpalast ebnete. Ein Genuss für Fans von Strategiespielen oder von House of Cards!
Neben den zahlreichen libanesischen Zeitungen interessieren sich auch westliche Medien ausnahmsweise für das Land – obwohl nichts explodiert ist. Interessanter Nebenaspekt: In den allermeisten internationalen – auch deutschen – Medien steht, der 83-jährige Aoun sei 81 Jahre alt. Womöglich haben sich die Journalisten einfach bei der deutschen oder englischen Wikipedia informiert (bei letztgenannter wurde der Fehler mittlerweile korrigiert) – bei der arabischen Wikipedia jedenfalls nicht, da ist Aoun nämlich 84. Hätten sie mal lieber das Porträt des neuen Staatsoberhaupts auf Alsharq gelesen…
Auch inhaltlich sind sich die meisten internationalen Medien einig, was von Aoun zu halten ist: nichts. Bestenfalls eine Marionette derHisbollah sei der ex-General, und damit von Iran. Und eigentlich mache seine Wahl ja auch keinen großen Unterschied. Der deutsche Außenminister gratuliert pflichtschuldig bei Twitter und meint, Aouns Wahl sei „ein Signal des politischen Aufbruchs”, und der Libanon habe für die Aufnahme mehr als einer Million syrischer Flüchtlinge “unsere Anerkennung und Unterstützung verdient”.