Flüchtlinge in Berlin “Wir schaffen uns eine kranke Parallelgesellschaft”

Der Missbrauchsbeauftragte der Regierung besucht Berlins größte Notunterkunft für Flüchtlinge. Experten warnen: Diese Art der Unterbringung kann besonders Kinder psychologisch schädigen.

Auf der Tür zum Kinderspielzimmer kleben bunte Hände aus Tonpappe mit Namen: Fatime, Parvis, Mary, Alissar. Kleine Tische gibt es hier, Bastelarbeiten an den Wänden, eine Spielküche, Matten zum Toben. Ein Rückzugsort inmitten einer unwirtlichen Welt. Hier können die Kinder der Notunterkunft Flughafen Tempelhof sich zurückziehen, wenn sie spielen wollen, Mitarbeiter der Betreiberfirma Tamaja und der Kinderrechtsorganisation Save The Children sichern die Betreuung, von Spenden getragen. Ein Luxussituation für eine Flüchtlingsunterkunft – nicht nur in Berlin. Und doch kaum mehr als ein Lichtblick.

Die Unterbringung in einer Notunterkunft ist eine Kindeswohlgefährdung in sich”, sagt Hannah Krunke, die Kinderschutzbeauftragte bei Tamaja. “Hier wirken unheimlich viele Risikofaktoren auf sie ein. Wir versuchen, sie so weit es geht zu minimieren.”
Mehr zum Thema: Ein zweite Chance für abgelehnte Asylbewerber
Seit die Hangars des ehemaligen Flughafens im Oktober vergangenen Jahres in aller Eile zur Notunterkunft erklärt wurden, hat sich viel getan in Berlins größter Notunterkunft. Anfangs schliefen die ankommenden Flüchtlinge noch auf Feldbetten in Bundeswehrzelten. Zum Duschen wurden sie alle paar Tage in Bussen in das nächste Schwimmbad gefahren.

Inzwischen ist der sanitäre Notstand behoben, in jedem Hangar gibt es Duschen und Toiletten, 117 insgesamt. Es gibt einen Wäscheservice, Sozialarbeiterbüros, eine Arztpraxis, eine Traglufthalle für Freizeitaktivitäten und in jedem Hangar ein Spielzimmer. Aus dem Notbehelf ist eine Vorzeigeunterkunft geworden. Vieles von dem, was in Tempelhof geboten wird, ist in Notunterkünften gar nicht üblich.
Mehr zum Thema: Bund und Länder beschließen “sensationellen” Deal
Doch gut geht es den Menschen hier trotzdem nicht. “Die Stimmung hat sich sehr verändert”, sagt Psychologin Hannah Krunke. “Die Anspannung der ersten Wochen ist Erschöpfung gewichen. Und jetzt machen sich Depressionen breit.” Das Leben auf engstem Raum, mit acht bis zehn Menschen in 25 Quadratmeter großen Waben, die Perspektivlosigkeit und der Blick in eine ungewisse Zukunft drückt den Menschen aufs Gemüt. Viele haben zusätzlich mit Traumatisierungen von der Flucht zu kämpfen und dem Verlust all dessen, was ihr Leben einst ausmachte: vom eigenen Besitz bis zu ihren sozialen Netzwerken.

Es gibt kaum Wohnungen für Flüchtlinge
An eine eigene Wohnung ist für viele erst einmal gar nicht zu denken – zu angespannt ist der Wohnungsmarkt in der deutschen Hauptstadt. Auch Kita-Plätze sind rar. Bislang konnten erst wenige Kinder in eine Betreuung außerhalb der Hangars vermittelt werden. Und wenn nun auch nach und nach die Turnhallen der Stadt freigeräumt werden, wird Tempelhof erst recht vom Notbehelf zur Dauereinrichtung. Zwei Hangars werden gerade renoviert, demnächst werden über 2000 Menschen hier leben. “Ein ganzes Dorf. Aber hier leben nicht zehn Prozent in einer Krisensituation, wie vielleicht normalerweise üblich, sondern alle”, meint Sahar El-Qasem, Referentin bei Save the Children.

Gerade in einer solchen Situation sei es wichtig, wenigstens die Kinder zu stabilisieren, sagt Johannes-Wilhelm Rörig. Der Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs ist an diesem Donnerstag nach Tempelhof gekommen, um für sein derzeit wichtigstes Anliegen zu werben: ein Gesetz, das bundesweite Mindeststandards für Flüchtlingsunterkünften vorschreibt. “Es kann nicht sein, dass Schutz noch länger vom Zufall oder vom Engagement einzelner Betreiber abhängt”, sagt Rörig. Standards mit Blick auf Mitarbeiter, Räume und Hilfsangebote müssten Teil des Asylgesetzes werden, sagt er. Doch bisher sei das am Widerstand von Finanz- und Innenministerien in Bund und Ländern gescheitert.
Mehr zum Thema: Willkommenskultur in Deutschland nimmt ab
Am Donnerstagabend wollten die Ministerpräsidenten der Länder erneut darüber beraten. Rörig hofft inständig auf Einsicht: “In vielen Unterkünften gibt es nicht einmal Spiel- und Lernräume.” Er könne “nicht hinnehmen, dass beim Kinderschutz weggeschaut wird. Flüchtlingsunterkünfte sind aus Sicht des Kindeswohls sehr gefährliche, ungeeignete Orte.”

Verschärft wird das Problem durch die Tatsache, dass viele Familien durch die Kriegs- und Fluchterfahrungen traumatisiert sind. “Die Familien kommen hier so erschöpft und belastet an, dass sie keine Ressourcen haben, ihre Kinder angemessen zu unterstützen”, sagt Psychologin Krunke.

Auch die Kinder hätten oft Entwicklungstraumata, weil sie erlebt hätten, dass ihre Eltern sie nicht beschützen konnten oder sie Hunger leiden mussten. “Die Eltern sind dann nicht mehr der sichere Hafen.” In der Folge hätten viele Kinder Bindungsprobleme und ein gestörtes Nähe-Distanz-Verhältnis, die oft in einer unnatürlich großen Vertrauensseligkeit auch Fremden gegenüber münde. “Das macht Flüchtlingsunterkünfte zu einem attraktiven Ort für Pädophile.”
In den Spielzimmern, die täglich von neun bis halb fünf geöffnet sind, sollen die Kinder zur Ruhe kommen und ein Gefühl von Normalität und Sicherheit bekommen. Die Betreuer könnten hier auch am ehesten einen Blick dafür entwickeln, wann ein Kind gefährdet ist – etwa, weil die Eltern es wegen ihrer eigenen Probleme nicht angemessen versorgen könnten, sagt Krunke.
Welche menschlichen Dramen sich hinter den dicken Flughafenmauern abspielen, ist von Außenstehenden kaum zu erahnen. Hans-Joachim Kretschmer arbeitet jeden Tag mit den Bewohnern. Auch er ist alarmiert. “Die Unterbringungsform hinterlässt Spuren bei den Bewohnern. Sie verändern sich”, sagte der Sozialpädagoge und fügt hinzu: “Wenn wir mit diesen Menschen unsere Zukunft gestalten wollen, dürfen wir nicht so mit ihnen umgehen.”
Allerdings gehören psychologische Behandlungen nicht zum medizinischen Standard für Flüchtlinge. In Tempelhof soll jetzt dennoch ein Psychologenteam aufgebaut werden, mit Spendengeldern. Eine Investition, die offenbar nötig ist – denn die Folgen der Unterlassung könnten fatal sein. Hannah Krunke warnt: “Wir schaffen uns hier eine kranke Parallelgesellschaft.”