Wenn es den Muslimen in Ghana trotz widriger Umstände gelingt, ohne politische Agenda und extremistische Auswüchse zu ihrem Land zu stehen, muss dies erst recht den Muslimen in Deutschland gelingen. Ihnen kann Andreas Backhaus ihre ständig beleidigte Abwehrhaltung und köchelnde Wut auf die westliche Gesellschaft nicht nachsehen.
Ghana lehrt, was für ein schwerer Fehler es ist, an Menschen verschiedener Religionen nicht dieselben Erwartungen und Maßstäbe anzulegen. Mit dem Anti-Islam-Programm der AfD hat die Polarisierung der Gesellschaft rund um die Religion des Islam herum ein neues Stadium erreicht. Bisher hatte sich über Jahrzehnte das abgespielt, was ich vor kurzem als „die Irrtümer der Integration“ zu beschreiben versucht habe: Mehrheitsgesellschaft und Muslime haben hier nicht am selben Strang gezogen, sondern es wurde unter dem Stichwort „Multikulti“ ein Nebeneinander der Kulturen legitimiert, bei dem die Mehrheitsgesellschaft mehr aufgibt, als sie von den Einwanderern zurückbekommt. Den geringen Willen der Muslime zur Assimilation bestätigt auch der niederländische Soziologe Ruud Koopmans in der FAZ.
Mit der AfD gibt es nun zum ersten Mal eine halbwegs bürgerliche Partei, die die politische Option formuliert, dieses Verlustgeschäft nicht länger mitzumachen. Statt den Muslimen weiter die offene Hand entgegenzustrecken, möchte sie deren Nullsummenmentalität vergelten, indem sie das, was die Mehrheitsgesellschaft den Muslimen und dem Islam als Religion anbietet, auf das absolute Minimum reduziert. Die Entstehung dieser politischen Option folgt also im Rahmen dieser Wahrnehmung durchaus einer gewissen Logik. Nichtsdestotrotz ist sie alles andere als ein Ruhmesblatt für Deutschland. Denn sie dokumentiert das Scheitern des Versuchs, allein auf Basis des guten Willens ein tragfähiges Zusammenleben zwischen den Muslimen, ihrer Religion und der Mehrheitsgesellschaft zu schaffen. Nicht selten folgert man daraus nun sogar, dass dies generell unmöglich sei, sobald der Islam involviert wäre. Mein Problem mit dieser Auffassung ist nicht, dass ich nicht verstehe, wie sie als Resultat der deutschen und europäischen Einwanderungserfahrung entstanden ist. Mein Problem mit ihr ist, dass ich herausgefunden habe, dass die zum Ausdruck gebrachte Zwangsläufigkeit alles andere als notwendig ist. Aber dies habe ich gewiss nicht in Deutschland gelernt …
Muezzin und Glocken
Draußen ist es noch dunkel. Ich wache auf. Aus einem altersschwachen Lautsprecher dringt der Ruf zum Morgengebet in mein Zimmer. Hier in Accra, Ghanas Hauptstadt in der Nähe des Äquators, bedeutet dies, dass es noch vor sechs Uhr morgens ist. Schon bald wird die Sonne die ohnehin permanent feuchte Luft wieder aufheizen und mein Gesicht am Kopfkissen kleben lassen. Ich versuche, die letzte für den Schlaf brauchbare Stunde zu nutzen. Das dem Gebetsruf folgende gedämpfte Gemurmel des Muezzins in einer mir fremden Sprache hilft dabei, noch einmal einzunicken. Eigentlich bin ich geradezu dankbar dafür, auf diese sanfte Art und Weise von einer Moschee geweckt zu werden. Denn sonst würde ich etwas später von einer charismatischen Kirche aus dem Schlaf gerissen, sobald diese ihre massive Lautsprecheranlage hochfährt und für die folgende Stunde die Liebe des Herrn Jesus Christus beschwört. In Ghana, wo die nahöstlich-monotheistischen Religionen bei ihrer Ankunft ebenso wie im Rest der Welt auf traditionelle, oft polytheistische Glaubensvorstellungen trafen, sind Geister im Alltag der Menschen noch viel präsenter, als man es sich als Europäer überhaupt vorstellen kann. Dies hat zur Folge, dass man beispielsweise den Heiligen Geist des Christentums umso lieber und lauter anruft.
Religion ist omnipräsent in Ghana. 88% der Ghanaer bezeichnen sie als sehr wichtigen Bestandteil ihres Lebens. Dementsprechend wechseln sich entlang der staubigen Hauptstraße durch mein Stadtviertel New Town die Werkstätten, Läden, Kirchen aller Denominationen sowie Moscheen durchgehend ab und wo der Platz nicht für eine vollausgestattete Moschee gereicht hat, stehen kleine Gebetshäuser mit nur einem einzigen Raum bereit. Fleischereien bitten, nicht ohne Grund, in Schriftzügen auf ihren aus Brettern oder Wellblech bestehenden Außenwänden um den Segen des Herrn. Die Heckscheiben der in scheinbar endloser Folge vorbeiratternden Tro-Tro-Kleinbusse sind oft mit Gottesbegriffen der Akan-Sprache bemalt, unter die sich hier und da auch Jesus oder Allah mischen. Ghana ist historisch bedingt sowohl ein multireligiöser, als auch ein multiethnischer Staat, in dem eine enorm hohe Toleranz für Mitbürger anderer Ethnien oder Religionen vorherrscht.
Kurze Betpause
Eines Abends bin ich nach dem frühen Einbruch der Dunkelheit zu Fuß im angrenzenden Stadtteil Nima unterwegs, in den es besonders viele Wanderarbeiter aus dem muslimischen Norden des Landes gezogen hat. Erst als mein Blick die Straße entlangschweift, werde ich auf die Dutzende Männer aufmerksam, die in einer langen Zweierreihe den Bürgersteig säumen und stumm ihr Gebet verrichten. Eine Sekunde lang bin ich auf Grund des für mich ungewohnten Bildes wie erstarrt, bis ich merke, wie rundherum das geschäftige Abendleben einfach weitergeht und auch ich mich wieder eingliedere. Ein paar Straßen weiter steuere ich einen Kiosk an, um eine Guthabenkarte für mein Handy zu kaufen. Dort angekommen bittet mich ein Mann, kurz auf seinen Freund, den Besitzer, zu warten, dieser sei nur kurz beten gegangen. Wir beginnen ein Gespräch. Ich erfahre, dass er einen Bruder in Göttingen, meiner damaligen Studienstadt, hat.
Einige Wochen später steige ich in Tamale, dem Zentrum von Ghanas Norden, aus dem Bus. Die Luft ist hier, 400 Kilometer näher an der Sahara, spürbar trockener als in Accra, so dass ich erleichtert durchatme. Auch das Straßenbild hat sich verändert. Während in Accra ein bunter Mix aller möglichen Kleidungsstile anzutreffen ist, tragen die meisten Frauen hier lange Gewänder mit Kopftüchern. Nichtsdestotrotz sind die Kleidungsstücke aus den in Westafrika verbreiteten bunten Stoffen gefertigt, was einen noch farbenfroheren Eindruck auf mich macht. Autos sind hier seltener anzutreffen, stattdessen ziehen Männer wie Frauen gemächlich auf ihren Motorrollern an mir vorbei. Am Vortag habe ich noch in Kumasi einen Blick in das ghanaische Heeresmuseum geworfen. Da ich der einzige Besucher war, kam ich schnell mit der Ausstellungsführerin ins Gespräch. Sie stammt aus Tamale, ist Muslimin und als sie erfährt, dass ich nach Norden weiterreisen werde, gibt sie mir die Handynummer ihrer Schwester, die noch dort lebt. Als wir uns am folgenden Abend treffen, zeigt sie mir ihr Zuhause, wo mich ihre Eltern erfreut begrüßen und ihr Abendessen mit mir teilen.
In Ghana geht Miteinander
Als ich nach weiteren holprigen und staubigen Stunden im Bus endlich den Mole-Nationalpark erreicht habe, freue ich mich auf eine ruhige Nacht ohne Musik und ohne Dieselgeneratoren im Hintergrund. Dazu passt, dass der Schlafsaal der Gemeinschaftsunterkunft am Rande des Parks bis auf mich und einen Gast aus Burkina Faso völlig leer ist. Nachdem wir nach kurzer Konversation das Licht gelöscht haben und ich mich hinlege, höre ich nochmal seine gedämpfte Stimme. Ich schaue auf, aber ich war nicht gemeint. Stattdessen sehe ich, wie sich die Silhouette meines Zimmergenossen zum Nachtgebet neigt. Ich sinke zurück auf mein Kissen und bemerke, dass ein Gebet sehr gut zu diesem friedlichen, stillen Ort im Nirgendwo passt.
In den Monaten meines Lebens in Ghana lerne ich viel über das Miteinander der Religionen. Schulbücher stellen sowohl christliche, als auch muslimische Rituale an wichtigen Stationen des Lebens dar. Interreligiöse Ehen sind weder ein Tabu, noch eine Seltenheit. Vor den Wahlen beten die religiösen Autoritäten gemeinsam für einen friedlichen Verlauf. Ich spüre das, was ich in meiner Heimat vermisse: Eine aufrichtige Gemeinwohlorientierung und eine glaubhafte Wertschätzung der gegenseitigen Toleranz. Dazu passt, dass 45% der ghanaischen Muslime über muslimischen Extremismus besorgt sind, womit sie im Jahr 2013 die Muslime in Pakistan, im Libanon und in Ägypten deutlich übertrafen, obwohl Ghana bisher weder von islamistischen Terroranschlägen heimgesucht wurde, noch auf wesentliche Episoden religiöser Gewalt zurückblicken muss. Doch die Angst davor, dass jemand das Miteinander zerstören könnte, ist da und sie hält wachsam.
Kurz vor dem Ende meines Aufenthalts möchte ich es noch einmal wissen und suche die kleine Moschee in meiner Nachbarschaft in Accra auf. Als ich mich in den frühen Nachmittagsstunden mit dem Imam und einem seiner Mitarbeiter zum Gespräch setze, sind wir die einzigen Anwesenden auf dem Gelände des Gotteshauses. Die uns umgebene Stille verleiht dem Ort eine merkliche Würde. An einem Punkt in unserem Gespräch über die Beziehungen zwischen den Religionen in Ghana spricht der Imam die in Dänemark erschienenen Mohammed-Karikaturen an. Innerlich wappne ich mich schon für das mir aus Deutschland im Gedächtnis gebliebene „ja, aber“ – ja, Gewalt im Namen des Islam als Reaktion auf die Karikaturen wäre natürlich abzulehnen, aber letztere stellten eben schon eine bösartige Provokation und Herabwürdigung der Muslime dar. Ich wappne mich, um es in dieser Situation einfach als Meinung zu akzeptieren, auch wenn ich sie nicht teile. Die Möglichkeit, dass ausgerechnet ein Geistlicher einer kleinen Gemeinde im religiösen Ghana das anders sehen könnte, ziehe ich unbewusst nicht ernstlich in Erwägung. Doch der alte Imam denkt nicht daran, mir die Bestätigung zu liefern. Stattdessen weist er darauf hin, dass es in Ghana keine Unruhen wegen der Karikaturen gegeben habe. Die an die Muslime ausgegebene Parole habe einfach gelautet: Wenn Allah sich durch diese Karikaturen beleidigt sieht, wird er selbst dafür strafen; dies ist nicht Aufgabe der Menschen.
Imam: Strafe wg. Karikaturen nicht Sache der Menschen
Da werden mir augenblicklich die niedrigen Erwartungen bewusst, die ich mittlerweile schon aus Gewohnheit an die Muslime anlege. Ich bemerke den Schaden, den unsere jämmerlichen in Deutschland geführten Debatten an meinem Bild der Muslime angerichtet haben und ich schäme mich, weil ich ihn erst jetzt bemerke. Ich denke an die Apologeten, die Relativierer, die Rechtfertiger, die ewiggleiche Mischpoke aus Islamverbänden, linken Selbsthassern und katholischen Trittbrettfahrern, die, wenn auch aus unterschiedlicher Motivation heraus, doch nur das eine will: An die Muslime und ihre Religion sollen aus keinem anderen Grund als dem, dass es sich um Muslime handelt, besondere, also diskriminierende Maßstäbe angelegt werden. Gleichzeitig möchte ich dem ghanaischen Imam am liebsten zurufen, dass er recht hat: Ja, genau so ist es! Ein wahrer, fester Glaube vertraut auf eine höhere Gerechtigkeit. Er kann nicht von den Meinungen der Menschen herabgesetzt werden und muss auch nicht vor ihnen in Schutz genommen werden. Menschen, die behaupten, im Namen Gottes oder zur Verteidigung seiner Ehre zu handeln, belegen dadurch nur ihr mangelndes Gottvertrauen.
Bald darauf hebt am späten Abend ein Airbus von der Startbahn des Kotoka International Airports ab und steuert Frankfurt am Main an. Aus einem Fenster blicke ich nicht ohne Wehmut auf das orangefarbene Lichtermeer Accras hinab. Ich möchte nicht suggerieren, dass man das ghanaische Religionsverständnis einfach nach Europa exportieren könnte oder sollte. Tatsächlich ist es überwiegend weder aufgeklärt, noch gemäßigt. Ich weiß nur: Wenn es den Muslimen in Ghana trotz der vielen widrigen Umstände, die das Leben dort mit sich bringt, dennoch gelingt, ohne Wenn und Aber zu ihrem Land zu stehen, sogar stolz und glücklich zu ihm zu stehen, ohne politische Agenda und extremistische Auswüchse, dann muss dies erst recht den Muslimen in Deutschland gelingen. Letzteren kann ich ihre ständig beleidigte Abwehrhaltung oder ihre beständig köchelnde Wut auf die westliche Gesellschaft nicht mehr entschuldigen, noch muss ich dass. In Ghana wurde ich daran erinnert, was für ein schwerer Fehler es ist, an Menschen verschiedener Religionen nicht dieselben Erwartungen und Maßstäbe anzulegen. Ich werde diesen Fehler nicht wiederholen.