Keine Kulturinstitution engagiert sich in der Flüchtlingshilfe momentan so intensiv wie die deutschen Theater. Immer noch aber treten Flüchtlinge selten als eigenständige Akteure auf. Die Silent University will das ändern. Von Dorothea Marcus
Vor drei Jahren war hier noch eine Schlecker-Filiale. Dann stand das Ladenlokal leer und reihte sich ein in die Trostlosigkeiten der Innenstadt von Mülheim an der Ruhr. Doch seit Juni 2015 ist aus dem Eckgebäude mit den großen Fenstern ein Ort der Hoffnung geworden: Die Dezentrale, kaum 400 Meter vom Hauptbahnhof entfernt, ist nun ein frisch renovierter, lichter Raum.
Eine Bibliothek wartet auf Spenden aus der Bevölkerung, das gelb-schwarze Universitäts-Logo prangt an den Schaufenstern. Im Rahmen des Theaterfestivals Impulse wurde hier im Juni 2015 die neueste Zweigstelle der Silent University eröffnet. Durch Gelder der Bundeskulturstiftung ist ihre Existenz bis Ende 2016 gesichert.
Gegründet wurde das Netzwerk für stillgelegtes Wissen von Geflüchteten bereits 2012 vom kurdischen Konzeptkünstler Ahmet Öğüt in der Londoner Tate Gallery. Geboren 1981 in der Türkei, lebt er heute in Amsterdam.
2009 hat Öğüt den türkischen Pavillon der Biennale in Venedig gestaltet. Im Jahr 2012 hatte er seine Idee, durch Krieg, Flucht oder Bürokratie zum Schweigen gebrachtes Wissen zu aktivieren – und so letztlich zu verhindern, dass Ärzte und Ingenieure im Taxigewerbe, in der Gebäudereinigung oder in der Depression landen. Sein Ziel: “Der Austausch von Wissen und demokratischer Bildung, die sowohl den Lehrenden als auch den Lernenden hilft”.
Die Silent University gibt es seitdem in London, Stockholm (2013), Hamburg (2014) und seit Mai 2015 auch in Amman, Jordanien. Zur Grundidee gehört, dass die Filialen der Silent University möglichst autonom und flexibel agieren.
Die Aktivitäten in Mülheim koordiniert Kirsten Ben Haddou, von Haus aus Diplompädagogin mit interkulturellem Schwerpunkt, erfahren in Flüchtlingsarbeit. In Hamburg hat die Stadtkuratorin Sophie Goltz die künstlerische Leitung inne. “Wirsind keine Universität im klassischen Sinne, hier kann man keine Bildungsabschlüsse erwerben”, erläutert Ben Haddou. Mit Online-Universitäten für Flüchtlinge, wie sie etwa die Kiron-Universität ermöglichen, gibt es zwar Kontakte, aber kaum Ähnlichkeiten.
Netzwerk für geistige und praktische Dinge
Zur Eröffnung in Mülheim spricht der in Bochum lebende Sozialarbeiter und gebürtige Iraner Hanif Hidarnejad darüber, dass Deutschland im Umgang mit Flüchtlingen wertvolle Ressourcen nicht nutzt. Einige Tage später im Juni erläutert auch der Iraker Behnam Igzeer, einst Leiter einer christlich-katholischen Schule in Bagdad, die Geheimnisse der arabischen Kalligrafie.
Ein fernes Relikt aus einer Zeit, als man den Irak noch mit Hochkultur und nicht sofort mit den Verbrechen des Islamischen Staates assoziierte. Es sind auch solche automatischen Zuschreibungen, die in der Silent University aufgelöst werden sollen.
Vier Dozenten hat Kirsten Ben Haddou schon versammelt. Alle zwei Monate findet eine Vorlesung statt, rund 15 sogenannte “Consultants”, Berater, formen ein Netzwerk, das auch Hilfe bei praktischen Dingen wie der Zeugnisanerkennung oder der Wohnungssuche leistet.
Ganz einfach sei die Suche nach Dozenten nicht, erzählt Kirsten Ben Haddou. Obwohl sie Honorar und Fahrtgeld erhielten, seien Flüchtlinge oft zu stark mit ihren Alltagssorgen und der Suche nach echter Arbeit beschäftigt. “Oftmals kommen sie auch nicht unbedingt aus Berufsgruppen, die sich für Vorträge eignen.” Ähnliches erzählt Sophie Goltz aus Hamburg. Dort, sagt sie, habe sich der Diskurs um Flüchtlinge seit September 2015 gravierend verändert.
Daher finden jetzt an der Silent University auch Deutschkurse, Anti-Bias-Workhops gegen Mechanismen von Diskriminierung oder Podiumsdiskussionen statt, zuletzt mit Kilian Kleinschmidt, dem ehemaligen Leiter des Flüchtlingscamps Zaatari im Norden Jordaniens, und mit ruandischen und syrischen Geflüchteten. “Wir stellen eine zunehmende Hierarchisierung zwischen Flüchtlingen fest und wollen mit der Silent University vor allem Räume öffnen, um miteinander in Kontakt zu kommen”, so Goltz.
Gute Sozialarbeit besser als schlechtes Theater?
Gemeinsam ist aber beiden deutschen Zweigstellen, dass sie Geflüchteten selbst eine Stimme geben. Das ist oft mehr, als in den rund 80 Theatern geschieht, die in einer Mischung aus Sozial- und Kunstarbeit direkte Flüchtlingshilfe leisten und die das Onlineportal nachtkritik.de verzeichnet.
Da wird gesammelt, Unterschlupf gewährt, debattiert, es wird besucht und auf die Bühne gestellt. Im Deutschen Theater Berlin schlafen jede Nacht Flüchtlinge in der Garderobe, das Schauspiel Köln hat die Patenschaft für zwei Heime übernommen, macht Theaterkurse mit Kindern oder verschönert die Heimgärten.
Die Münchener Kammerspiele bauen mit an einem Flüchtlingshaus am Viktualienmarkt, und natürlich stehen auch immer wieder Flüchtlinge selbst auf der Bühne. Das Engagement ist flächendeckend, und gerne wiederholt Matthias Lilienthal, Intendant der Münchener Kammerspiele seinen Satz: “Gute Sozialarbeit ist mir lieber als schlechtes Theater”.
Trotzdem hat es auch schon Kritiker auf den Plan gerufen: so hat etwa der deutsche Regisseur Michael Thalheimer in einem Interview des Wiesbadener Kuriers gesagt, dass solche sozialen Projekte nichts seien als eitle Posen – und sich das Theater damit selbst abschaffe.
Tatsächlich fällt beim Blick auf die nachtkritik-Liste auf, dass künstlerische Initiativen, in denen Geflüchtete die eigene Stimme erheben, noch selten sind. Doch es gibt sie: etwa im Projekt Ruhrorter am Theater an der Ruhr in Mülheim, wo Flüchtlinge selbst spielen, inszenieren und konzeptionieren.
Oder am Schauspiel Wuppertal, wo Syrer mit Hilfe von regionalen Schriftstellern in Wir erzählen um unser Leben ihre Fluchtgeschichten formulieren. Oder am Theater Osnabrück, wo der syrische Theatermann Anis Hamdoun eigene Projekte gestaltet. Es gibt noch viel zu lernen im neuen Einwanderungsland Deutschland.