Seine Eltern mussten vor dem Bürgerkrieg im Libanon fliehen. In seinem Debütroman “Am Ende bleiben die Zedern” beschäftigt sich Pierre Jarawan mit dem Erzählen von Geschichten, harten Wahrheiten und der Sehnsucht der Menschen nach Sicherheit
STANDARD: Über die schwierige Geschichte des Libanon und die Geschichte des Nahen Ostens erfährt man viel in Ihrem Roman. Wollten Sie für Leser Aufklärungsarbeit leisten?
Pierre Jarawan: Ja und nein. Es ist in erster Linie ein Unterhaltungsroman. Aber Literatur hat immer auch die Fähigkeit, Einblicke in Welten zu geben, die manchen bisher verschlossen geblieben sind. Der Libanon ist so eine Welt. Das Land ist in der deutschsprachigen Literatur nicht präsent. Viele haben nur ein ungefähres Wissen über das Land. Dabei kann die Kenntnis der Geschichte des Libanon dabei helfen, unsere Gegenwart zu verstehen, denn sie ist mit dem gesamten Nahostkonflikt und dem Bürgerkrieg in Syrien untrennbar verwoben. Aber in erster Linie ging es mir um die Geschichte, die ich erzähle.
STANDARD: Es ist die Geschichte des Jungen Samir, des Sohns einer libanesischen Familie, die in den 80er-Jahren nach Deutschland geflohen ist. Als Samir acht Jahre alt ist, verschwindet sein Vater spurlos. Gibt es in dieser Geschichte auch biografische Parallelen?
Jarawan: Nein. Die Parallelen sind emotionaler, nicht biografischer Natur. Mit Samir habe ich auf biografischer Ebene nur gemein, dass der Libanonkrieg unsere Eltern dazu gezwungen hat, das Land zu verlassen. Was uns verbindet, ist die Erfahrung, zunächst mit einem verklärten Bild des Libanon aufzuwachsen und dann festzustellen, dass es da noch einen anderen, düsteren Ort gibt, der mit dieser Vorstellung nichts gemeinsam hat. Samir lernt diesen Libanon erst kennen, als er schließlich aufbricht, um das Rätsel um das Verschwinden seines Vaters zu lösen. Es ist ein schmerzhafter Prozess für ihn, all das zu erkennen. Auch für mich war es schmerzhaft, zu lernen, dass in diesem wunderschönen Land so vieles falsch läuft. Da meine Mutter Deutsche ist, hatte ich jedoch nie einen inneren Konflikt auszutragen, die Frage nach meiner Identität habe ich mir nie gestellt. Für mich war immer klar: Wenn ich in Deutschland bin, bin ich in Deutschland zu Hause, und wenn ich im Libanon bin, fühle ich mich dort heimisch.
STANDARD: Aber wie Samirs Vater im Buch, so war anscheinend auch Ihr Vater für Sie eine Inspiration als Geschichtenerzähler.
Jarawan: Das stimmt. Mein Vater hat uns früher viele Geschichten erzählt. Ich bin sicher, das ist der Grund, weshalb ich mit dem Schreiben angefangen habe. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied: Samirs Vater erfindet Geschichten und Märchen für seinen Sohn, in denen er sein eigenes Trauma verklärt. Sie sind eine Art Hilferuf, was der Sohn jedoch erst 20 Jahre später erkennt. Überhaupt ist das Buch für mich auch eine Hommage an das Geschichtenerzählen und an die Macht der Fantasie. Die orientalische Erzähltradition spielt eine große Rolle.
STANDARD: Ihr Schreibstil ist sehr bildhaft. Hatten Sie keine Angst, in eine Klischeefalle zu tappen und einen zu orientalischtümelnden Roman zu schreiben?
Jarawan: Nein. Die Geschichten, die Samirs Vater erzählt, sind natürlich sehr märchenhaft und erinnern an die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Aber im Roman wird das ironisch gebrochen, die verklärenden Elemente werden dekonstruiert: Die Erzählungen des Vaters stellen sich am Ende nicht als überzogene Romantik heraus, sondern als Teil einer harten Wahrheit, die Samir hilft, Antworten auf seine Fragen zu finden.
STANDARD: Schließlich reist Samir in den Libanon und macht sich auf die Suche nach dem Vater und stellt fest, dass die Bilder, die er von Beirut, vom Libanon, von seinem Vater und von seiner Familie hat, romantisch, oberflächlich und falsch sind. Kann Samir ein Beispiel für junge Leute sein, die eine ähnliche Geschichte haben und versuchen, ihre eigene Geschichte zu finden?
Jarawan: Samir ist weniger ein Beispiel für junge Menschen, die heute zu uns kommen, sondern vielmehr für die zweite Einwanderergeneration, die hier schon lange lebt. Diese Menschen hatten nie die Wahl herzukommen, die Wahl wurde ihnen von den Eltern abgenommen. Sie wachsen einerseits im Versuch auf, sich zu integrieren, andererseits mit den Geschichten der Eltern aus der alten Heimat. Das führt bei Samir zu einem inneren Konflikt, mit dem sich viele junge Menschen, deren Eltern eine ähnliche Geschichte haben, identifizieren können. Für Samir dreht sich alles darum, endlich die losen Fäden der Geschichte seines Lebens zu einem sinnvollen Ende zu verknüpfen. Wenn wir das auf die heutige Situation übertragen, dann reden wir automatisch von vielen jungen Männern und Frauen, die aus Ländern stammen, in die sie in absehbarer Zeit nicht zurückkehren können, ohne ihr Leben zu gefährden. Die unmittelbare Sehnsucht dieser Menschen richtet sich weniger an die alte Heimat, sondern auf Europa, auf Frieden, auf Sicherheit.
STANDARD: Ein bisschen liest sich das Buch als eine Art Kommentar zur aktuellen Flüchtlingskrise.
Jarawan: Als ich mit dem Schreiben des Romans begonnen habe, gab es noch nicht einmal Pegida, die Thematik war noch nicht so präsent wie heute. Der Flüchtlingsaspekt ist auch nur ein winziger Teil der Geschichte, aber natürlich schreibt sich das Thema, wenn man das Buch heute liest, automatisch in den Text hinein, weil Samir ein Kind von Flüchtlingen aus dem Libanon ist. Er findet sich zwischen zwei Welten wieder, was es ihm schwermacht, seinen Platz zu finden. Ich denke, der Roman kann die Leser sensibilisieren für die Schwierigkeiten, mit denen Menschen, die zu uns kommen, konfrontiert werden, kann einen Einblick geben in ihre Lebenswelt.
STANDARD: Sie beschreiben eindrücklich eine Szene in einer Turnhalle, als Samirs Eltern nach Deutschland kommen. Haben Sie dafür vor Ort recherchiert?
Jarawan: Ich werde oft auf diese Szene angesprochen. Es ist interessant, dass man dabei sofort an heute denkt, denn die Szene spielt im Jahr 1983. Das zeigt aber nur, dass die heutige Situation im Grunde keine neue ist. Ich war nicht vor Ort in einer Turnhalle, habe aber mit Menschen gesprochen, die das erlebt haben. An dieser Szene war mir aber etwas anderes sehr wichtig. Sie ist die Geburtsstunde von Samirs Vater als Geschichtenerzähler. Er erzählt seinen Kindern in der Turnhalle Geschichten, um die Wirklichkeit in dieser Extremsituation erträglich zu machen. Er verklärt sie, wie er später auch den Libanon verklären wird.
STANDARD: Ein Teil des Romans spielt im Libanon, der Leser begleitet Samir auf die Suche nach dem Vater. Wie haben Sie den Libanon bei Ihrer Recherche erlebt?
Jarawan: Der Libanon hat rund zwei Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen, bei einer Einwohnerzahl von vier Millionen. Das führt zu Problemen, die unüberseh- und unüberhörbar sind. Das reicht von Flüchtlingslagern am Straßenrand, bis hin zu großen Vorbehalten in großen Teilen der Gesellschaft. Um das einordnen zu können, muss man jedoch wissen, dass das Verhältnis zwischen Syrern und Libanesen geschichtlich vorbelastet ist, da Syrien im Libanesischen Bürgerkrieg eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hat. Für die Recherche zu dem Roman habe ich mit sehr mutigen Menschen gesprochen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die tabuisierten Themen des Bürgerkriegs endlich zur Sprache zu bringen. Bis heute werden mehrere Zehntausend Menschen vermisst, die im Krieg entführt wurden, und niemand spricht darüber. Wenn der Libanon eine friedliche Zukunft haben möchte, dann ist genau diese Bewältigung, die diese Menschen anstreben, notwendig. Ohne Dialog wird es nicht funktionieren.