Als Dichterin und bildende Künstlerin ist die 1925 geborene Etel Adnan eine der originellsten Stimmen aus Libanon. Ihre Meditationen über die Nacht tragen das Siegel eines Spätwerks.
KOMMENTARE
Aus subjektiver Perspektive umkreisen die Texte das Wesen der Nacht und in ihr freigesetzte Bilder und Erinnerungen, Gedanken und Gefühle. (Bild: Patrick Pleul / Keystone)
Den Gedichtzyklus «Arabische Apokalypse» zählt die libanesisch-amerikanische Schriftstellerin und Malerin Etel Adnan zu ihren wichtigsten Werken. Darin bildet die Sonne den leitmotivischen Kontrapunkt zur zerstörerischen Gewalt des Krieges. Wenn ihr Feuer am Ende der Zeiten alles, auch sie selbst, verschlungen haben werde, so heisst es, dann könnten wir in der Nacht «Erkenntnis finden und Frieden».
Wie eine Fortsetzung solcher Zeilen erscheint nun der Band «Nacht». Er versammelt vier Texte, welche die mittlerweile 91-jährige Autorin in den letzten Jahren verfasst hat. Aus subjektiver Perspektive umkreisen sie auf je eigene Weise – lyrisch, essayistisch, aphoristisch – das Wesen der Nacht und in ihr freigesetzte Bilder und Erinnerungen, Gedanken und Gefühle.
In einem anderen Licht
Der erste und kürzeste Text ist eine einstimmende Hommage an die Nacht, diese «samtene Erfahrung». Für Adnan ist sie das «Betreten einer anderen Welt» mit einem «eigenen Licht» und die Eröffnung einer ungeheuren Expansion des Geistes im Traum. Sie sucht ihre Leser einzubeziehen, indem sie dazu auffordert, hinaus in die Nacht zu gehen und sich, etwa an einem Flussufer sitzend, mitnehmen zu lassen auf Reisen der Imagination.
Der folgende Text, «Nacht», evoziert dann jene in ihrem eigenen Licht erscheinende andere Welt. Impressionen und Erinnerungen, Sentenzen und Aphorismen bilden unterschiedlich lange Textgruppen, voneinander getrennt durch Zeilen mit den Symbolen für Neumond, Halbmond und Vollmond. Es geht um Zeit und Kosmos, Sommer und Winter, Liebe und Leben, Dädalus und Nietzsche kommen vor, die Menschen aus Hiroshima und Gott. Vor allem aber geht es um Erinnerung, die alles mit allem zu verbinden vermag und Vergangenes neu gruppiert. «Erinnerung näht Ereignisse zusammen, die bislang nicht aufeinander stiessen.»
Nicht nur mit herausfordernden Aussagen oder nachdenklichen Fragen fesselt Adnan den Leser, sondern auch durch den Einsatz kunstvoller Stilmittel. Dazu gehören Ironie, Paradoxie, Personifikation, das Vertauschen gewohnter Zuordnungen («Berge ziehen dahin wie Wolken») oder auch äusserste Sparsamkeit des Ausdrucks. Zum Beispiel «die Wolken / oh, / die Wolken» – keine die Phantasie des Lesers einschränkenden Epitheta, nur eine durch ein staunendes «oh» getaktete Wiederholung.
Rettende Erinnerung
Zu den Themen, die leitmotivisch Adnans Werk durchziehen, gehören auch Angst und Krieg und die Frage nach den Ursachen und Anlässen für immer neu aufflammende Feindseligkeit. «Vorahnung» – ein mit surrealen Bildern durchwobener Erzählstrom aus der Ich-Perspektive – greift den Gedanken einer Neuordnung der Vergangenheit durch Erinnerungwieder auf. Ohne sie herrsche ein «infames Durcheinander». Mit ihr sei die Welt «ein Geheimnis in einem weiten offenen Himmel», in dem die im Wald verscharrten Gefolterten des Krieges Erlösung durch Gedenken finden.
Der letzte Text, der poetisch-philosophische Dialog «Gespräch mit meiner Seele (II)», bildet den Abschluss eines wohlkomponierten Ensembles von Nachtstücken. Jenseits von Trost und Verzweiflung wirkt er wie die Vision einer anderen «samtenen Erfahrung»: der Trennung von Ich und Seele im Tod als Gegenstück zum Herabsinken der Nacht, dem Schauplatz unmöglich scheinender Vereinigungen. Zusammengestellt und kongenial übersetzt wurden die Texte von Klaudia Ruschkowski.