Flüchtlingskrise: Warum ich nicht helfe

HAMBURG, GERMANY - SEPTEMBER 19: Refugees watch a performance put on for them by teenagers working with the local Thalia theater at a welcome festival (Willkommensfest) for migrants on September 19, 2015 in the Karolinenviertel neighborhood of Hamburg, Germany. At least 800,000 migrants are expected to arrive in the country this year alone and Germany's largest businesses see opportunities for both their own staffing as well as for the migrants themselves in terms of integration, or according to Daimler CEO Dieter Zetsche, potential for 'the basis for the next German economic miracle.' Proponents of the influx of refugees from war-torn nations have argued that the country's aging population and economy could boon from the new arrivals, while critics maintain that they will be a drain on Germany's financial resources. According to a report, however, in the long run foreigners pay more in taxes and social security than they receive in social benefits. (Photo by Adam Berry/Getty Images)

Seitdem die Flüchtlingskrise im letzten Jahr akut wurde, hat Andreas Backhaus eine seltsame Veränderung in sich bemerkt: Seine Motivation, bei der Versorgung und Integration der ungezählten Einwanderer zu helfen, ist stetig gesunken und hat sich mittlerweile bei null eingependelt: er erklärt warum.

Jetzt sind sie eben da, nun müssen wir sie auch integrieren – so lautet die scheinbar logische Konsequenz, die aus der Asylpolitik der letzten zwölf Monate gezogen wird. Doch seitdem die Flüchtlingskrise im vergangenen Jahr akut geworden ist, habe ich eine seltsame Veränderung in mir bemerkt: Meine Motivation, ja sogar mein direkter Wille, bei der Versorgung und Integration der ungezählten Einwanderer zu helfen, sind stetig gesunken und haben sich mittlerweile konstant bei null eingependelt.

Seltsam finde ich diese Reaktion sicherlich nicht deswegen, weil ich nicht laut genug mit Kommentaren, Reden und Predigten darüber, wie gut und richtig es sei, zu helfen, bombardiert wurde. Nein, die Maschinerie hat gut gearbeitet. Aber seltsam an meinem Gefühl ist, dass ich prinzipiell eigentlich nichts gegen zwischenmenschliche Hilfe habe und sie gegebenenfalls auch selbst praktiziere. Tatsächlich ist die Hilfe, gerade wegen des fehlenden unmittelbaren Eigennutzens, eine der größten Wert- und Vertrauensbezeugungen, die ein Mensch einem anderen Menschen überhaupt erweisen kann.

Warum fühlt man so, wie man fühlt?

In solchen Momenten, in denen man sich auf seine Gefühle keinen Reim machen kann, ist es meistens hilfreich, die erlebten Emotionen nicht sofort in Gut und Böse einzuteilen, sondern sich zu fragen, warum man so fühlt, wie man fühlt. Vielleicht fühle ich keine Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge, weil sie Ausländer sind? Aber ich helfe auch Ausländern, egal ob sie in Deutschland oder anderswo leben und halte mich dafür unter Umständen sogar besser qualifiziert als manch helfender Traumtänzer. Dann habe ich vielleicht keine Lust, etwas für die Flüchtlinge zu tun, weil sie mir persönlich nicht nahestehen? Aber würde ich beispielsweise Zeuge, wie eine mir unbekannte Person in einen Unfall verwickelt würde, bin ich mir recht sicher, dass ich mich moralisch dazu aufgerufen fühlen würde, Hilfe zu leisten. Vielleicht stört es mich, dass viele derjenigen, die am lautesten zur Hilfe aufrufen, selbst eher wenig beisteuern? Aber die Faulheit und Inkonsequenz der Anderen sind nie eine gültige Rechtfertigung für die eigene Faulheit und Inkonsequenz. Dann gibt es noch die ganzen Einwände, dass die Aufnahme von über einer Million Flüchtlinge nach geltendem Recht nicht notwendig war und dass im Zuge dieser Aufnahme sogar geltendes Recht außer Kraft gesetzt wurde, dass die Flüchtlingsroute über das Mittelmeer und den Balkan kein Korridor der Humanität für die Schwächsten und Bedürftigsten war, sondern für die, die ihn sich leisten und ihn überleben konnten – diese Einwände sind alle korrekt. Aber das grundlegende moralische Argument, dort leiden Menschen, also müssen wir versuchen, ihnen zu helfen, indem wir ihnen bei uns Zuflucht gewähren, ist immer noch sehr stark. Wenn es aber trotz dieser Stärke überhaupt nicht mehr bei mir verfängt, dann muss der Grund meines Unwillens zur Hilfe logischerweise auch sehr starker moralischer Natur sein.

Ich habe festgestellt, dass man der Aufforderung „Du musst helfen!“ nur eine einzige Frage entgegenzuhalten braucht, um ihre moralische Natur zu ergründen: „Was passiert, wenn ich nicht helfe?“ Nun, was wiederum passiert, wenn ich helfe, wurde mir oft genug in rosigen Tönen vorgezeichnet: Dann werden wir eine tolerante, weltoffene, genetisch aufgefrischte Gesellschaft mit vielen neuen notwendigen Arbeitskräften und glücklichen ge- und beschenkten Menschen erschaffen. Natürlich wäre mein Beitrag oder Nichtbeitrag daran in jedem Fall verschwindend gering, gemessen an der Größe der Bevölkerung. Aber angenommen, es hinge allein vom Grenzfall meiner Hilfeleistung ab, ob das, was immer noch unscharf als „Integration“ umrissen wird, gelingen würde. Was würde dann passieren, wenn ich nicht helfe? Nun, auch für diesen Fall wurden die Folgen gar nicht mal so sehr verschleiert, wie man es vielleicht vermuten würde: Dann werden die zum Bleiben eingeladenen Flüchtlinge in Parallelgesellschaften riesigen Ausmaßes abdriften, dann werden sie für den Rest ihres Lebens und auch in der darauffolgenden Generation von der öffentlichen Hand leben, dann werden die eingewanderten Muslime den Islamisten und Salafisten in Scharen in die Arme laufen und sich radikalisieren – dann wird sich unser Land so derartig zum negativen verändern, wie wir es uns noch kaum vorstellen können. Sollte es dagegen nur richtig teuer werden, wäre dies schon ein echter Glücksfall.

Keine Tugend gegen Androhung von Gewalt

Das wiederum heißt aber, dass ich, wenn ich ganz ehrlich bin, die erbetene Hilfe primär nicht deswegen leisten würde, weil mir etwas am Schicksal der Flüchtlinge läge, sondern weil mir etwas an meinem eigenen Wohlergehen läge – und das würde alles karikieren, wofür Hilfe eigentlich steht. In allen vorab von mir geschilderten Hilfsszenarien konnte der um Hilfe Ersuchende wenigstens immer ein Argument für sein Anliegen vorbringen: „Hilf mir, oder es wird mir schlecht ergehen.“ Jetzt aber hat sich mitten in Deutschland eine Situation ergeben, in der es, wenn auch unausgesprochen, heißt: „Hilf mir, oder es wird mir schlecht ergehen – und dir erst recht!“ Politik, Medien und viele Bürger tun so, als ob sie das nicht wüssten – weil sie befürchten, dass sonst der wahre Charakter dessen, was sie angerichtet haben, zu Tage treten würde. Für mich aber ist dann klar, dass ich, auch losgelöst aus dem Flüchtlingskontext, so jemandem, dessen Bitte um Hilfe mit einer unterschwelligen Drohung einhergeht, niemals helfen würde. Ich schulde niemandem eine Tugendhaftigkeit, wenn er sie unter der Androhung von Gewalt einfordert.

Falls die Situation aber sogar dergestalt wäre, dass die Androhung so deutlich und bedrohlich erfolgen würde, dass ich mich ihr gar nicht widersetzen könnte und zur Hilfe genötigt würde – dann käme es darüber hinaus einem noch widerwärtigeren Verbrechen gleich, würde ich diese Nötigung auch noch als großzügig gewährte, humanistische Hilfeleistung meinerseits deklarieren. Denn das würde neben der Aufgabe meiner Selbstachtung auch noch die Entehrung jeglicher Hilfe bedeuten, die ich jemals zuvor aus wirklich aufrichtigen Motiven für Menschen geleistet habe. Nein – wenn jemand meint, mich zur Hilfeleistung nötigen zu müssen, dann werde ich ihm nicht den Gefallen tun, seinem und meinem Gewissen vorzumachen, dass ich dies freiwillig oder gar aus Nächstenliebe täte. Aus dem gleichem Motiv heraus werde ich einer Regierung und einer Gesellschaft nicht den Gefallen tun, durch meine Kooperation den Zwang zur Abwendung einer totalen Katastrophe für unser Land, so wie wir es kennen, als nationale Großherzigkeits- und Gerechtigkeitsübung zu verkaufen.

Diese Situation wäre nebenbei bemerkt leicht zu vermeiden gewesen. Hätte man die Grenzen dichtgehalten und stattdessen in den Flüchtlingslagern in der Türkei und im Libanon den wirklich Bedürftigen geholfen, hätte man Schwerstkranke, Familien ohne Ernährer und Beschützer, bedrohte Christen und Jesiden aus den Lagern nach Deutschland ausgeflogen – wer hätte etwas dagegen einwenden können oder wollen? Es hätte kein Köln, kein Darmstadt, kein Heidenau, keine zweistellige AfD, keine Spaltung des Landes gegeben. Aber nein, das war ja alles nicht gut genug für die wiederentdeckte deutsche Großmannssucht. Erst diese Politik, die Hilfe und Mitmenschlichkeit zu Schleuderwaren degradiert hat, hat die Zwangssituation geschaffen, welche es mir nun moralisch unmöglich macht, zu helfen. Natürlich will nicht jeder Flüchtling in eine sozialstaatsfinanzierte Parallelgesellschaft abdriften oder im Salafisten-Look mit Zottelbart und Jogginghose herumlaufen. Aber durch nichts Anderes als reine Fahrlässigkeit und Verantwortungslosigkeit wurde eine Situation geschaffen, die diese Entwicklung möglich und Abhilfe dagegen zum reinen Überlebenszweck macht – und es wurden Erwartungen geweckt, die egal mit welcher Anstrengung nicht zu verwirklichen sein werden und die somit die Wahrscheinlichkeit dieser Entwicklung enorm erhöhen.

Nun wächst immerhin die Zahl der Mitbürger beständig, die zumindest unter vorgehaltener Hand eingestehen, dass die Regierung wohl doch nicht über den großen Plan verfügte, als sie die Flüchtlinge zum ersten Mal massenweise ins Land gelassen hat. Allerdings ziehen nicht wenige von ihnen daraus die Schlussfolgerung, dass es nun gerade auf Grund der begangenen politischen Fehler umso eher auf die pflichtbewussten, kompetenten und hilfsbereiten Bürger ankomme, um die Folgen dieser Fehler für das Land so gut wie möglich auszubügeln. Meiner Auffassung nach wäre nichts verkehrter, und zwar wieder in einem moralischen Sinne, als dies zu tun. Falls man zumindest schon darin übereinstimmt, dass diese Fehler begangen wurden, dann sollte sich zuallererst die Frage stellen, wer die Verantwortung für sie trägt und dann, welche Konsequenzen die betreffenden Personen zu ziehen haben. Was ich dagegen erlebe, ist eine nichtgekannte Abstreitung und Verweigerung jeglicher Verantwortung, sobald sie das Amt eines Kölner Polizeichefs übersteigt. Stattdessen sollen nun die Kompetenten ihren Dienst antreten, um die Fehler der Inkompetenten unter den Teppich zu kehren.

Verantwortungsbewusste sind nicht die Lückenbüßer für die Verantwortungslosen

Die Verantwortungsbewussten sollen für das gradestehen, was die Verantwortungslosen eingebrockt haben. Die, für die Begriffe wie „Pflicht“ nicht nur leere Floskeln sind, sollen für die Pflichtvergessenen den Karren aus dem Dreck ziehen. Dabei mitzumachen wäre aus meiner Sicht nicht nur ungerecht, sondern auch in höchstem Masse selbstzerstörerisch: Denn gerade damit würde ich die Voraussetzung, ja sogar die Legitimation, dafür schaffen, dass ich im nächsten Jahr wieder durch die jederzeit mögliche Einwanderung der nächsten Million zum Handeln genötigt würde. Wer jetzt denkt, durch seine bereits geleistete Hilfe ein Recht auf Respekt oder sogar auf eine Pause erworben zu haben, sollte sich die vernichtenden medialen und politischen Urteile über Gemeinden, die der Auffassung waren, dass ihre Hilfskapazitäten an ihre Grenzen gestoßen seien, ins Gedächtnis rufen. Nein, wer sich dieses Joch einmal hat aufzwingen lassen, der wird erst dann wieder frei sein, wenn er sich unter dem Eindruck der öffentlichen Schande von ihm lossagt, oder wenn er unter ihm zusammenbricht.

Meine Einwilligung in Form einer Hilfeleistung wäre also nicht nur eine Einwilligung in eine Nötigung, sondern sie würde auch erst wieder die Voraussetzungen dafür schaffen, dass ich erneut zur Hilfe genötigt würde – und deshalb darf ich diese Einwilligung um meiner selbst willen nicht geben. Gleichzeitig denke ich an diejenigen Mitmenschen, die sie immer noch, ob bewusst oder unbewusst, erteilen: Die vielen Helfer, die Lehrer, die Polizeibeamten, die ganz normalen Bürger, die bereit sind, für die Politik und ihren Hofstaat in Sachen Flüchtlingsintegration das Unmögliche möglich zu machen. Unter ihnen sind viele Menschen, die der Auffassung sind, dass sie erst dann etwas wert seien, wenn sie sich für andere Menschen aufgegeben hätten. Ich sehe auch, was mit diesen Menschen geschieht und es erschreckt mich. Wissen sie, dass sie in Wahrheit nicht auf die Billigung der Gesellschaft angewiesen sind, dass aber umgekehrt die Gesellschaft mit ihren hehren Moralvorstellungen sehr wohl auf die Billigung und die Kooperation dieser Menschen angewiesen ist? Dass diese Menschen der Gesellschaft, die sie auf Grund ihrer Hilfsbereitschaft und ihrer Leidensfähigkeit bis aufs Blut ausquetscht und erpresst, gar nichts schulden? Meine Gründe, nicht zu helfen, mögen für sie egoistisch klingen – und sie sind es auch. Denn gegenüber einer Gesellschaft, die Selbstaufgabe und Opferbereitschaft predigt, bleibt für das eigene Fortbestehen keine andere Wahl. Sobald auch diese Menschen das verstehen, sobald sie erkennen, dass hinter der mächtigen moralischen Knute, unter der sie gehalten werden, wirklich gar nichts an moralischer Substanz zu finden ist, wird im Land ein anderer Wind wehen.

Zuletzt ist der Entschluss, nicht zu helfen, doch eine sehr gute Nachricht für die, die immer noch so freudig das Heil der Hilfeleistung predigen und meine Motive egoistisch und herzlos nennen würden. Denn das heißt ja, dass ich ihnen bei ihrer Arbeit mit den Flüchtlingen sicherlich nicht ins Handwerk pfuschen werde. Im Gegenteil, das Heft des Handels liegt nun endlich in den Händen derer, die es schon so lange haben wollten. Nun bekommen Roth und Göring-Eckhardt, Bedford-Strohm und Böhmermann, Merkel und Käßmann, und noch viele weitere Erkorene die Gelegenheit, zu beweisen, was ihre Werte und Kompetenzen wirklich taugen, wenn sie die Realität meistern müssen, ohne dass jemand anderes sie für sie meistert. Ich habe die leise Vorahnung, dass ihre Werte und Kompetenzen nicht besonders viel taugen und ich will nicht andeuten, dass alles rosig ausgehen wird, wenn sich dies bewahrheiten wird. Sollten sie irgendwann doch der Ansicht sein, dass sie auf meine Hilfe nicht länger verzichten können und mich zu einer Änderung meines Verhaltens bewegen wollen, dann werden sie mich übrigens dazu zwingen müssen – oder es zumindest versuchen. Ich habe es mit ehrlichem Bedauern akzeptiert, dass sie es nicht anders lernen werden – dass Hilfe uns teuer sein muss. Nicht aus einem Mangel an Menschlichkeit, sondern um die Menschlichkeit der Hilfe zu bewahren.