Flüchtling im Libanon: Woher nimmst du den Mut, Osama?

Osama hat seine Chance genutzt. Gemeinsam mit seinem Vater ist er in die Firma seines Onkels im libanesischen Grenzgebiet eingestiegen. In dem Handwerksbetrieb entstanden Dank dem Knowhow des 34-Jährigen sogar neue Jobs.

Der Besuch schmerzt. Wie jedes Mal, wenn Osama mit seinem verbeulten Kia knirschend auf dem Schotter vor den Flüchtlingsbehausungen hält. Ein halbes Dutzend Hütten, hastig zusammengenagelt aus Balken, Brettern und Plastikplanen. Windschief stehen sie am Rand einer staubigen Straße, irgendwo auf einer Wiese im Bekaa-Tal. “ITS” heißen diese Mini-Siedlungen: “Informal Tented Settlements”.
Osama hasst den traurigen Anblick. Dann sieht er durch das Seitenfenster in ein breites und bekanntes Grinsen, das schon fast auf der Scheibe klebt. Osama kann sich ein Lächeln nicht verkneifen: Meydan hat schon den Rollstuhl aus dem Kofferraum geholt, aufgeklappt und bereitgestellt.

Osama, 34, und Meydan, 39, haben das gleiche Schicksal. Raketeneinschläge veränderten das Leben der beiden Männer aus Syrien für immer. In Osamas Rücken stecken immer noch Splitter, er ist querschnittgelähmt. Auf den ersten Blick hatte Meydan wohl mehr Glück. Die Schrapnelle aus seinem Bein konnten entfernt werden, er kann wieder gehen. Doch zwei seiner Brüder überlebten den Angriff nicht.

Als Meydan im Libanon ankommt, ist er schwer an Körper und Seele verwundet. “Meine Familie hat alles verloren. Ich habe mich geschämt, dass meine Brüder gestorben sind, aber nicht ich. Osama hat mir damals geholfen.” Osama, der so gut zuhören kann. Gerade, wenn ihm sein Gegenüber nur von Sorgen und Angst erzählt. Der sich jeden Satz genau überlegt, bevor er spricht. Weil er weiß, dass Worthülsen sich in einer solchen Situation verbieten. Dafür schenkt er ein aufmunterndes Lächeln. Selbst, wenn er Sekunden später kurz vor Schmerzen ächzt. Weil sich der Krieg in seine Muskeln, Sehnen und Nervenbahnen gefressen hat.

Dabei hätte Osama allen Grund, selbst zu verzweifeln.

Früher lief alles so gut für ihn. Mit 22 Jahren startet er nach dem Studium in einem Vorort von Damaskus eine kleine Firma, die Möbel aus Holz, Stahl und Glas herstellt. 25 Handwerker arbeiten für ihn. Selfmade-Mann Osama schreibt seine Erfolgsgeschichte, 2013 macht sie der Bürgerkrieg zunichte. Eine Explosion, ein Einschlag, alles geschieht innerhalb eines Augenblicks. “Haus, Werkstatt und Maschinen sind zerstört”, sagt Osama schlicht.

“Ich habe einen wunderbaren Freund gewonnen”

Er erzählt, wie seine Familie zu einem Onkel nahe der Grenze auf libanesischer Seite flüchtet. “Mir ging es damals schlecht, sehr schlecht”, sagt der 34-Jährige. Er muss rasch lernen, mit seiner Behinderung zu leben. “Ich wollte meinen Kindern weiterhin ein Vorbild sein, und meiner Frau ein guter Mann. Und ich habe eine Chance gehabt”, sagt Osama. Die Chance ist die Werkstatt seines Onkels.

Osama bringt sein Knowhow ein. Er führt die Buchhaltung und hilft an den Maschinen. Mit Erfolg. Bis zu 15 Menschen arbeiten jetzt bei guter Auftragslage in dem Familienbetrieb, mehr als doppelt so viele wie früher. Osama hat geholfen, neue Arbeitsplätze zu schaffen.

17 Familienmitglieder leben heute in einer Vierzimmerwohnung. Osama, seine Frau und die beiden Söhne teilen sich einen Raum. Wasserflecken an den Wänden zeugen noch im Frühling von dem feucht-kalten Winter. “Aber wir leben in einem festen Haus, nicht in Hütten, wie so viele andere Flüchtlinge aus Syrien. Und wir schaffen es, halbwegs über die Runden zu kommen”, sagt Osama.

Die erste Zeit nach seiner Verwundung hat ihn geprägt: “Mit einer Behinderung als Flüchtling zu leben, heißt in einer Welt voller Barrieren zu überleben.” Osama will helfen. Darum engagiert er sich in einer Selbsthilfegruppe, ist Mutmacher und Zuhörer für Menschen, die wie Meydan drohen, an ihrem Trauma zu zerbrechen. “Ich habe einen wunderbaren Freund gewonnen, ist das nicht ein schöner Lohn?”, fragt der 34-Jährige.

Leicht ist der Einsatz für ihn nicht. Die Arbeit in der Firma fordert viel Kraft. Dann noch Energie finden, um Fremden zu helfen. Das ist nicht selten ein Kampf gegen den eigenen Körper. Weil der Rücken unsäglich schmerzt, wenn er zu lange im Rollstuhl sitzt. Doch anstatt sich zu Hause auf dem Bett auszustrecken, quält er sich in seinen Kia und fährt los.

Unterstützt werden er und das lokale Selbsthilfe-Netzwerk von der Hilfsorganisation “Handicap International”. “Sie geben mir Mut, mich für die Rechte von Menschen mit Behinderung einzusetzen. Sie helfen vielen auch direkt”, berichtet er. Mit Physiotherapeuten beispielsweise, die ihre Patienten nicht nur behandeln, sondern auch gleich die Angehörigen schulen. Finanziert werden die Programme von ECHO, der Generaldirektion Humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz der Europäischen Kommission.

Für die Rechte behinderter Flüchtlinge im Libanon einzutreten ist eine Herausforderung. Rund 1,1 Million Menschen haben sich laut UNHCR-Statistiken aus Syrien in das Nachbarland geflüchtet. Damit ist jeder vierte Bewohner des Libanons ein Kriegsflüchtling. Andere Schätzungen gehen sogar von bis zu zwei Millionen Flüchtlingen im Libanon aus.

Die Hürden wachsen, die Hoffnung schwindet

Seit Mai 2015 werden auf Drängen der Regierung keine Syrer mehr durch das UNHCR als Flüchtlinge registriert. Vereinfacht gesagt, dürfen syrische Flüchtlinge seit gut einem Jahr nicht mehr in den Libanon einreisen. Außer sie können beispielsweise den Nachweis erbringen, dass ein Libanese ihren Unterhalt übernimmt. Syrer im Libanon sehen sich oftmals unerfüllbaren Auflagen gegenüber. Sie müssen Gebühren berappen, Mietverträge beibringen, Beglaubigungen von lokalen Autoritäten. Unterschreiben, dass sie keiner Arbeit nachgehen oder dass sie entsprechende finanzielle Rücklagen haben. In manchen Gebieten müssen sich speziell Flüchtlinge an Ausgangsperren halten. Zudem gelten sie als Migranten, nicht als Kriegsflüchtlinge.

Osama bleibt unbeirrt: “Menschen mit Behinderung brauchen als Flüchtlinge besonderen Schutz und Unterstützung. Zum Beispiel in der medizinischen Versorgung. Das ist ihr gutes Recht.” So wie der 71-jährige Mamdouh: Er verlor ein Bein, weil ihm Diabetes-Medikamente fehlten. Mamdouh erhielt gerade von Handicap International eine hochwertige Prothese. Regelmäßig schaut ein Team von Physiotherapeuten und Sozialarbeitern bei ihm vorbei. “Das sind schon einmal wichtige Hilfen, erste Schritte”, sagt Osama.

Die zwei Männer haben von der Heimat gesprochen, von besseren Zeiten. Über Frieden, eine Rückkehr, wagen beide kaum ein Wort zu verlieren. “Für uns heißt es, jeden Tag aufs Neue zu bestehen”, sagen sie.

Der Schatten des Krieges wird weit reichen, wenn eines Tages in Syrien ein Frieden kommen sollte. Das wissen die Menschen im politisch labilen Libanon zu gut, nicht nur die Flüchtlinge.
Nahe dem libanesischen Ort Chmout sucht ein Team von Handicap International nach Minen, nachdem Dorfbewohner direkt neben einem Weg drei Sprengsätze aus dem Bürgerkrieg gefunden haben. Der ist 26 Jahre her. Im Land mahnen noch immer Ruinen und zerschossene Mauern, welch kostbares Gut der Frieden ist.

Osama und Meydan hoffen, dass die Lage stabil bleibt. Noch einmal zu fliehen, daran mögen sie nicht denken.

Zum Autor: Der Foto-Journalist Till Mayer setzt sich mit Langzeitfolgen von Kriegen auseinander. Im Erich-Weiß-Verlag erschienen dazu die Bildbände “Abseits der Schlachtfelder” und “Barriere:Zonen”. Die Wanderausstellung “Barriere:Zonen” kann von Schulen, Universitäten und Institutionen entliehen werden. Für sein humanitäres Engagement als Journalist wurde er mehrfach ausgezeichnet. In den Libanon reiste er auf Einladung von “Handicap International”.