Ein Staat ohne Präsident

Rabieh ist ein Vorort von Beirut. An den Hängen des Libanon-Gebirges gelegen, bietet Rabieh einen herrlichen Blick hinunter auf die Hauptstadt und das Meer. In dieser teuren Wohngegend leben viele Reiche und Mächtige des Libanon. Hier residiert auch Michel Aoun, der seit Jahren die Ambition hat, Präsident des Zedernstaats zu werden. Wer den 81-jährigen Ex-General und Anführer der Freien Patriotischen Bewegung besuchen möchte, muss zunächst fünf Kontrollposten mit bewaffneten Soldaten passieren. Im Anwesen des christlich-maronitischen Politikers folgen dann Sicherheitskontrollen wie in einem Flughafen.

Schon über zwei Jahre ohne Präsident

Aoun präsentiert sich als höflicher Mann mit ausgeprägtem Sendungsbewusstsein. Er sieht sich als bestmöglicher Vertreter der libanesischen Christen. Aoun warnt vor einer dauerhaften, massenhaften Präsenz der sunnitischen Flüchtlinge aus Syrien. Er möchte das Wahlsystem ändern, weil die Christen angeblich nicht angemessen repräsentiert sind in der Politik. Umso so wichtiger sei es, dass der Libanon endlich wieder einen Präsidenten bekomme. Die Regierung sei kaum handlungsfähig, die politische Blockade schade dem Land. «Für die Christen geht es um viel», betont Aoun.

Als multireligiöses Land hat der Libanon eine Konkordanzdemokratie, in der die Staatsämter nach konfessionellen Kriterien besetzt werden. So ist das Amt des Staatspräsidenten einem maronitischen Christen vorbehalten. Seit Michel Sleiman im Mai 2014 aus dem Präsidentenamt geschieden ist, haben im Parlament 43 Wahlgänge ohne Ergebnis stattgefunden. Der letzte Versuch war am vergangenen Montag. Der nächste Wahltermin ist am 5. September. Aoun muss weiter warten und hoffen.

Aoun versöhnt sich mit Erzfeind Geagea

Aoun gehört zur alten, politischen Elite, die seit Jahrzehnten die Geschicke des Libanon bestimmt. In den letzten zwei Jahren des Bürgerkriegs (1975–1990) war er Regierungschef und Staatsoberhaupt sowie Oberbefehlshaber der libanesischen Armee. General Aoun kämpfte gegen die christliche Miliz der Lebanese Forces sowie gegen die syrischen Truppen. Nach dem Krieg ging Aoun ins Exil nach Frankreich. 2005 kehrte er wieder zurück, nachdem sich die syrische Besatzungsmacht zurückgezogen hatte. «Ich verliess den Libanon nicht freiwillig, ich wurde verbannt», sagt Aoun heute.

«Man muss für alle Szenarien bereit sein»: Präsidentschaftskandidat Suleiman Frangieh. Foto: Vincenzo Capodici

Nach seiner Rückkehr versöhnte sich Aoun zunächst mit dem Assad-Regime in Damaskus. Dann schloss er mit der Hizbollah eine strategische Allianz. Seit 2006 gehört seine Freie Patriotische Bewegung einem Parteienbündnis an, das von Schiiten dominiert wird. Ex-General Aoun hat inzwischen sogar Frieden geschlossen mit einem Erzfeind aus den Tagen des Bürgerkrieges. Samir Geagea, damals Anführer der Milizen der Lebanese Forces, unterstützt nun Aouns Kandidatur. Aoun wird nachgesagt, dass er bereit ist, sein politisches Programm seinen Präsidenschaftsambitionen unterzuordnen – was er aber, wenig überraschend, vehement dementiert.

Assad-Freund Frangieh ist Gegenkandidat

Aouns Gegenkandidat ist Suleiman Frangieh. Der 50-jährige Parlamentarier und Chef der christlichen Marada-Bewegung stammt aus einer Familie, die seit Generationen höchste Staatsämter und einflussreiche Positionen im Libanon besetzt. Sein Grossvater zum Beispiel war Staatspräsident (1970–1976) und sein Vater Anführer der Marada-Miliz im Bürgerkrieg. Die Familie Frangieh unterhält seit Jahrzehnten enge Beziehungen zum Hause Assad in Syrien. Suleiman Frangieh, der schon mehrmals als Minister wirkte, ist ein guter Freund von Bashar al-Assad.

Im Gespräch macht Frangieh einen pragmatischeren Eindruck als Aoun. Die Christen könnten eine vermittelnde Rolle spielen im Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, sagt er. Der Libanon sei mit den Problemen des Nahen Ostens verstrickt. «Man muss für alle Szenarien bereit sein.» Die Lösung für die Präsidentvakanz sieht er in einer Einigung der ausländischen Mächte, die Einfluss im Libanon ausüben. «Vor allem der Iran und Saudiarabien müssen einander näher kommen», sagt Frangieh. Allerdings hat sich die Feindschaft zwischen Teheran und Riad in letzter Zeit verstärkt.

Der schiitisch-sunnitische Konflikt spiegelt sich in der libanesischen Politik, wo zwei nahezu gleich starke Lager Regierung und Parlament lähmen. Das von der schiitischen Hizbollah angeführte Bündnis unterstützt Aoun. Die sunnitisch dominierte Allianz favorisiert Frangieh. Und die Christen können sich nicht auf einen Kandidaten einigen.