Christos Stylianides: “Wir sind Libanon und Jordanien etwas schuldig”

euronews:

Die Welt erlebt eine der gravierendsten humanitären Katastrophen seit dem Zweiten Weltkrieg: Bewaffnete Konflikte, die Ausbeutung von Menschen und die Flüchtlingswelle. Deshalb haben die Vereinten Nationen erstmals einen Humanitären Weltgipfel einberufen. Der Mann, der all diese Themen für die Europäische Union bearbeitet, ist Christos Stylianides. Herr Kommissar, willkommen bei The Global Conversation.

Christos Stylianides:
Danke für die Einladung.

euronews:
Was steht bei diesem Gipfel auf dem Spiel? Es brennt an vielen Stellen…

Stylianides:
Die Arbeit bis zum Gipfel selbst ist wichtig, weil alle dabei sind, die es betrifft: Staaten, humanitäre Organisationen und alle Stellen, die in der humanitären Hilfe arbeiten. Der Gipfel ist sehr gut vorbereitet worden, und wir müssen ein solides Ergebnis mit einer aussagekräftigen Botschaft erreichen, sodass die humanitären Helfer etwas in der Hand haben, um die riesigen Herausforderungen anzugehen, die in Bezug auf den Hilfebedarf die schlimmsten seit dem Zweiten Weltkrieg sind.

euronews:
Ist dies ein symbolträchtiger Gipfel? Eigentlich war die Veranstaltung als eine gute Nachricht aufgefasst worden, doch erst kürzlich haben die “Ärzte ohne Grenzen” erklärt, nicht teilzunehmen. Sie beschrieben den Gipfel als eine Veranstaltung des guten Willens, fügten aber hinzu, sie hätten keine Hoffnung.

Stylianides:
Man könnte sicherlich höhere Erwartungen an den Gipfel haben. Wir als Europäische Union und ich als Kommissar, wir wollen eine konkrete politische Erklärung, und ich will eine verbindliche politische Erklärung. Es ist bei sehr wichtigen Themen noch Raum für entscheidende politische Zusagen. Zum Beispiel bin ich der festen Überzeugung, dass wir Zusagen hinsichtlich humanitärer Rechte erreichen können – insbesondere in Bezug auf den Schutz humanitärer Helfer, die vor Ort im Einsatz sind. Und das hat auch mit den “Ärzten ohne Grenzen” zu tun. Wir wissen, dass sie in furchtbarer Weise in Mitleidenschaft gezogen worden sind: Krankenhäuser, Krankenstationen, Ärzte und das Personal wurden angegriffen. Und das zweite große Thema ist die Finanzierung humanitärer Hilfe.

euronews:
Ist es ein Plan humanitärer Hilfe, anderen Ländern, die Sie natürlich für Ihre Haltung loben, Milliarden zu zahlen? Wie der Türkei, Libanon oder Jordanien, wo Millionen von Flüchtlingen leben. Zahlen Sie der Türkei Geld, um die Flüchtlinge fernzuhalten?

Stylianides:
Die finanzielle Hilfe und die Kooperation mit der Türkei sind sehr wichtig. Die Türkei ist der wichtigste Faktor beim Umgang mit der Flüchtlingskrise, doch es geht nicht um einen Tauschhandel. Es geht darum, dass man einem Land helfen muss, dass diesen riesigen Bedarf hat, um mit der Krise umgehen zu können. Das Gleiche gilt für Libanon und Jordanien. Ich war oft in beiden Ländern, und ich glaube, dass nicht nur Europa, sondern die internationale Gemeinschaft diesen Ländern etwas schuldig ist. Deshalb betonte ich immer, dass es sich weder um eine regionale, noch um eine europäische, sondern um eine weltweite Krise handelt. Und deshalb brauchen wir auch eine weltweite Antwort.

Steckbrief Christos Stylianides
Christos Stylianides ist bei der Europäischen Union Kommissar für humanitäre Hilfe und Krisenschutz
Er arbeitete als Zahnarzt, ehe er in die Politik ging
Er war Sprecher der zypriotischen Regierung und 1998 Mitglied der Delegation des damaligen Präsidenten Glafcos Clerides im Rahmen der EU-Beitrittsgespräche sowie der Verhandlungen über eine Wiedervereinigung Zyperns
Er war ein Befürworter des “Annan-Plans” der Vereinten Nationen, in dem Zypern als einheitlicher Staat mit zwei Bundesländern vorgesehen war. Der Plan wurde in einer Volksbefragung abgelehnt
Obwohl Stylianides als liberal gilt, ist er Mitglied der konservativen Partei DISY
euronews:
Die Organisation “Human Rights Watch” berichtete kürzlich, türkische Posten hätten an der Grenze zwischen Syrien und der Türkei auf Flüchtlinge geschossen, darunter Frauen und Kinder.

Stylianides:
All diese Meldungen werden erfasst, und wir sprechen mit jedem Staat, dem so etwas vorgeworfen wird. Was uns betrifft, so möchte ich betonen, dass die Hilfe nicht den Regierungen, sondern humanitären Organisationen zukommt. Um Missverständisse zu vermeiden: Ich meine hier die Vertretungen der Vereinten Nationen, internationale Organisationen, große Nichtregierungsorganisationen, die bestimmten Kriterien entsprechen müssen, um das Geld zu erhalten.

“Lassen Sie nicht zu, dass die Jemen-Krise vergessen wird!”

euronews:
Sprechen wir über eine andere Krise, die nicht so sehr in der Öffentlichkeit steht wie jene in Syrien. Ich meine den Jemen. Dem Sondergesandten der Vereinten Nationen für humanitäre Hilfe zufolge werden 14 Millionen Menschen nicht ausreichend ernährt, die Hälfte von ihnen ist den Kampfhandlungen ausgesetzt. Waren Sie vor Ort? Kommen Sie dort zu den Menschen durch?

Stylianides:
Sie haben vollkommen recht. Die Jemen-Krise ist eine der weltweit schlimmsten und leider findet sie in den internationalen Medien keine Beachtung. Wir haben große Schwierigkeiten und wurden unter Druck gesetzt. Wir haben mit den kriegsführenden Parteien gesprochen und haben wichtige humanitäre Hilfe geleistet, doch leider sind keine Hilfsorganisationen vor Ort, die diese Hilfe aufnehmen. Die Lage ist derart dramatisch, dass es für jede Organisation unmöglich ist, dort zu arbeiten. Kürzlich gab es mit der Feuerpause ein positives Signal, wir hoffen, dass sie hält. Damit kommt man besser zu den hilfsbedürftigen Menschen durch, wir werden weiter helfen und hoffen, dass die Feuerpause ein Dauerzustand wird, sodass wir uns um die humanitäre Krise kümmern können. Doch ich appelliere an die internationalen Medien: Lassen Sie nicht zu, dass die Jemen-Krise vergessen wird!

euronews:
Die letzte Frage: Sie waren bei vielen Krisen am Ort des Geschehens: Gibt es eine Erfahrung, die Sie emotional berührt hat oder die Sie veranlasst hat, mehr für eine bestimmte Region tun zu wollen?

Stylianides:
Ja, Sie haben recht, viele Menschen sagen mir, ich sei von Bildung und Notsituationen besessen. Ich habe unweit des Flüchtlingslagers Al Zatari in Jordanien eine syrische Familie getroffen, die unter sehr schwierigen Bedingungen lebte: Eine Mutter mit sechs Kindern zwischen einem und 13 Jahren. Kurz bevor wir gegangen sind, kam die Mutter mit dem Dolmetscher zu mir und sagte: “Danke für alles. Sie sehen, dass wir dank Ihrer Hilfe Nahrung und einen Ort haben, an dem wir leben können. Doch ich möchte, dass meine Kinder in Würde leben. Um eine Zukunft zu haben, brauchen sie Bildung.” Und sie hatte vollkommen recht. Es ist in unserer Zeit undenkbar, humanitäre Hilfe ohne eine Grundlage von Bildung zu leisten. Bildung ist die beste Verteidigung gegen extremistische Ansichten, die wir von allen Kindern der Welt fernhalten wollen. Es ist eine Schande, dass so viele Kinder nicht die Möglichkeit haben, zur Schule zu gehen. Deshalb beharren wir darauf, das ganze Paket der humanitären Hilfe zu leisten, doch ich finde, dass wir uns auf die Bildung konzentrieren müssen.

euronews:
Das ist ein gutes Schlusswort. Herr Kommissar, danke für das Interview.