Wie ein 100 Jahre alter britischer Kolonialvertrag weiterhin den Nahen Osten prägt

Am 16. Mai jährte sich zum 100. Mal ein Beschluss französischer und englischer Diplomaten, den Nahen Osten in zwei konkurrierende Reiche aufzuspalten – eine Entscheidung, die selbst heute noch für Unruhen in der Region sorgt.

Das historische Sykes-Picot-Abkommen, das nach seinen Verfassern Mark Sykes aus Großbritannien und François Georges-Picot aus Frankreich benannt ist, wurde am 16. Mai 1916 im Geheimen unterzeichnet, indem die Welt erst nach dem Ende der Russischen Revolution 1917 von seiner Existenz erfuhr.

Unterzeichnet durch das Vereinigte Königreich und Frankreich während eines Treffens in der Londoner Downing Street und mit dem Einverständnis des Russischen Reichs, sollten damit die zwei Einflusssphären der imperialistischen Nationen in Erwartung eines Sieges gegen das Osmanische Reich im 1. Weltkrieg aufgeteilt werden (Verborgene Geschichte: Wie eine geheime Elite die Menschheit in den Ersten Weltkrieg stürzte).

Großbritannien übernahm die Kontrolle über das Land zwischen Jordan und Mittelmeer, einschließlich des heutigen Jordanien, südlichen Iraks und der Mittelmeerhäfen Haifa und Akkon (Die Berlin-Bagdadbahn 1900-1940). Frankreich beanspruchte Teile der Türkei, des nördlichen Irak, Syrien und Libanon, während Russland Istanbul, Armenien und den Bosporus übernahm.

Dr. Neil Faulkner sagte in einer Video-Dokumentation für „teleSUR English“, das Abkommen erschuf „das Erscheinungsbild des geteilten Nahen Ostens, das die heute bekannten Länder Libanon, Syrien, Palästina, Jordanien und Irak umfasst“.

Er fügte hinzu, es sei „ein tief zerrütteter Naher Osten, der 100 Jahre später immer noch von Konflikten aufgerieben wird“.

Heutzutage vermuten viele Problemanalytiker, dass „Daesh“ (ein arabisches Akronym für die im Westen als „ISIS“ oder „ISIL“ bekannte Terrorgruppe) eine Reaktion auf die Spannungen ist, die durch das Abkommen und die etwas künstlichen Staatsgrenzen erzeugt wurden.

„Was wir in Form des über das Wochenende schnell und brutal stattgefundenen militärischen Sturmangriffs durch ISIS und den praktischen Untergang der US-trainierten irakischen Armee mit ansehen müssen, ist nichts weniger als ein Versuch, die Linien der Sykes-Picot-Karte auszuradieren – Linien, die den Nahen Osten über ein Jahrhundert zusammenhielten“, schrieb Charles M. Sennott bei einer Analyse für „MintPress News“ vom 17. Juni 2014.

Bei einer Analyse auf TeleSur English führte Mohamed Hemish näher die Verbindungen aus zwischen Sykes-Picot und sowohl Daesh als auch dem syrischen Bürgerkrieg:

Irak und Syrien wurden aus verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen gebildet, einschließlich Sunniten, Schiiten, Christen und Kurden, die tatsächlich Seite an Seite lebten, jedoch auf halb-festgelegten Territorien und unter osmanisch eingesetzten Herrschern.

Das durch die westlichen Mächte implementierte Nationalstaatenmodell brachte diese Selbstregierung innerhalb dieser ethnischen und religiösen Gruppen zum Erliegen, was in einem aufkommenden sektiererischen Konflikt resultierte, der sich seit über einem Jahrhundert zusammenbraute.

Das Abkommen etablierte eine Geschichte imperialer Kontrolle über die Region, die bis heute anhält, und legte das Fundament für viele der aktuell dort stattfindenden Konflikte. Es bildete die Grundlage für die britische „Kontrolle“ über Palästina (Ha’avara-Abkommen: Die geheime zionistische Vereinbarung mit Hitler), die es ihnen erlaubte, die Region zu zerstückeln und 1948 die Vertreibung seiner alteingesessenen Bevölkerung zu unterstützen (Großbritannien: Belastende Dokumente aus Kolonialzeit vernichtet).

Dieses Jahr markierte die Gründung Israels, ein Ereignis, das die lokale palästinensische Bevölkerung „Nakba“ nennt – ein arabisches Wort, das „Katastrophe“ bedeutet.

Es ebnete sogar den Weg für die Allianz zwischen Saudi-Arabien und den USA, als Großbritannien danach strebte, durch das Bittersee-Abkommen von 1948 die Kontrolle und Verantwortung für das Königreich am Persischen Golf abzutreten. Heute ist es einer der wichtigsten Verbündeten in der Region; es kauft von den USA jährlich Waffen im Wert von Milliarden an Dollars, während die USA die Saudis vor Konsequenzen für ihre Kriegsverbrechen schützen.

Jedoch argumentieren Steven A. Cook und Amr T. Leheta, dass dem Abkommen von Historikern und Experten zu großes Gewicht beigemessen wird. Bei einem außenpolitischen Meinungskommentar vom 13. Mai schrieben sie, dass sowohl Großbritannien als auch Frankreich das Abkommen bereits kurz nach seiner Unterzeichnung zu unterminieren begannen. Sie fuhren fort:

Die modernen Grenzen des Nahen Ostens sind kein kompletter Präzedenzfall. Ja, sie sind das Werk europäischer Diplomaten und Kolonialbeamten – aber diese Grenzen waren keine aus einer Laune heraus gezeichneten Linien auf einer leeren Karte. Sie basierten größtenteils auf vorher existierenden politischen, sozialen und ökonomischen Realitäten der Region, einschließlich osmanischer Verwaltungseinheiten und Praktiken.

Yasir Tineh, ein in Kuwait lebender Palästinenser behauptete, dass die realen Auswirkungen von Sykes-Picot großteils psychologischer Art sein, indem sie eine Atmosphäre der Schwarzseherei in der Region herstellten. In einem Leitartikel für teleSUR English schrieb er am 15. Mai:

Das Beste, das die Machthaber aus dem Abkommen herausschlagen konnten, war, dass es die Grundlagen für eine verinnerlichte Kolonisation ergab. Heute betrachtet sich der Nahe Osten weiterhin als das Ergebnis westlicher Dominanz. Dennoch ist es nicht ein 100 Jahre altes Abkommen, welches das Schicksal des Nahen Ostens besiegelt hat; es sind andauernde und viel aktuellere Gründe, angefangen bei amerikanischen Kriegen, Handelsabkommen, Waffengeschäften, Marionettenregierungen und mehreren anhaltenden Katastrophen.