Libanon hat eine hohe Zahl syrischer Flüchtlinge aufgenommen. Doch die Rufe nach Rückkehr werden lauter. Sicherheitskräfte üben Druck auf die Flüchtlinge aus, die eigentlich keine Heimat mehr haben.
Abu Ahmad würde viel dafür tun, um endlich nicht mehr in einem Zelt leben zu müssen und heimkehren zu können. Fünf Jahre im Elend des Zeltlagers sind eine unerträglich lange Zeit. Aber die Frage nach der Rückkehr hört er momentan nicht gern. «Ihr müsst wissen, wir haben Schlimmeres erlebt, als ihr euch je vorstellen könnt», hebt er an. «Und wir haben Angst, dass sie für uns eines Tages ein neues Flüchtlingslager in einer sogenannten Sicherheitszone in Syrien eröffnen. Und dann schlägt – sagen wir versehentlich – eine Rakete in der Schutzzone ein. Wir wollen das nicht. Wir wollen frei entscheiden, ob und wann wir heimkehren.»
Wir sitzen in Abu Ahmads Zelt in einem der vielen Lager in der Bekaa-Ebene. Seit 2012 ist der aus Hama stammende Familienvater in Libanon; zwei seiner sieben Kinder wurden hier geboren. Er hat sein Obdach mit bescheidenen Mitteln wohnlich eingerichtet: ein paar abgenutzte Sessel, eine dünne Matte auf dem Boden, ein Spiegel mit blauem Plasticrahmen an der Zeltwand. Eine Wand aus Holzbalken und Plasticplanen trennt ein weiteres Zimmer ab. Und das Wichtigste: Der Boden ist mit Beton ausgegossen, zwei Ventilatoren machen die brütende Hitze erträglicher – dieses bisschen Komfort können sich nicht alle Flüchtlinge leisten.
Die Armee reisst Lager ab
Das Thema Rückkehr der syrischen Flüchtlinge ist in Libanon in aller Munde. Kaum ein libanesischer Politiker hat sich nicht in der einen oder anderen Weise hinter die Forderung gestellt. Der libanesische Präsident Michel Aoun sprach sich unlängst für eine «sichere» Rückkehr aus, lehnte aber zugleich das Prinzip einer freiwilligen Rückkehr ab. Manche schüren die Fremdenfeindlichkeit. So suggerierte etwa die libanesische Zeitung «al-Nahar», die Syrer könnten bald eine Mehrheit im Land stellen. Das ist übertrieben, wenngleich die Anzahl Flüchtlinge bei rund 1,5 Millionen im Verhältnis zu 4 Millionen Einwohnern beträchtlich ist. Libanon hat weltweit die höchste Anzahl Flüchtlinge pro Kopf.
Das wäre für jedes Land schwierig, ist es aber erst recht für den schwachen libanesischen Staat. Viele klagen, dass die Flüchtlinge die Infrastruktur belasteten. Die Politiker schlagen immer wieder in die gleiche Kerbe, lenken damit jedoch von ihrem eigenen Versagen ab. Denn die öffentliche Infrastruktur des Landes ist auch ohne die Syrer marode. Probleme mit der Müllentsorgung sind wegen der paralysierten libanesischen Politik seit mehreren Jahren ungelöst. Bürger müssen wegen mangelnder staatlicher Versorgung privat Strom und Wasser einkaufen. Jetzt hat Beirut sogar ein Abkommen mit Damaskus angekündigt, wonach ausgerechnet das kriegsversehrte Syrien das Land mit Strom versorgen soll.
Für Flüchtlinge wie Abu Ahmad ist derweil selbst der Anschein von Stabilität, der sein mühevoll hergerichtetes Zelt erweckt, trügerisch: Es ist schon das fünfte Mal seit seiner Flucht nach Libanon, dass er sein Heim neu aufbaut. Die libanesische Armee reisst immer wieder Zelte der Syrer ab, die sich in kleinen, informellen Camps zusammenschliessen. Grosse, institutionalisierte Lager will Libanon aus den historischen Erfahrungen mit den palästinensischen Flüchtlingen nicht. Für die Evakuierungen werden in der Regel Sicherheitsgründe geltend gemacht. Das Camp von Abu Ahmad, das 87 Familien beherbergte, war laut Armeeangaben zu nahe beim Militärflughafen Rayak. Allerdings ist bei den Evakuierungsbefehlen kein klarer Plan ersichtlich; nicht alle Camps in der Umgebung von Rayak erhielten einen Evakuierungsbefehl.
Angst vor Deportation
Oft ist es für die Syrer bei einer Evakuierung fast unmöglich, eine Alternative zu finden, da kaum eine Gemeinde mehr Flüchtlinge aufnehmen möchte. Zur Verunsicherung trägt bei, dass nicht immer klar kommuniziert wird, welches Gebiet von einem Evakuierungsbefehl betroffen ist. «Das letzte Mal haben wir mühselig 47 Zelte ab- und wiederaufgebaut», erzählt Abu Ahmad. Er hatte eine Bewilligung für ein neues Grundstück von einem Landbesitzer in der Nähe. Mitten in der Nacht im strömenden Regen sei die Armee gekommen und habe den Abriss des neu aufgebauten Lagers befohlen. Abu Ahmad war am Boden zerstört. Sein Nachbar, erinnert er sich, brach weinend zusammen.
Der Druck auf die syrischen Flüchtlinge in Libanon steigt in mancher Hinsicht. Viele haben ihre Ersparnisse aufgebraucht. Landbesitzer lassen Flüchtlinge gegen Miete auf ihren Grundstücken Zelte errichten und für einen Hungerlohn auf ihren Plantagen schuften. Die Kinder von Abu Ahmad arbeiten; nur so kann die Familie überleben. Deshalb können sie nicht zur Schule, und das schon seit Jahren. Für die Zukunft ist das verheerend, je länger die Situation anhält. Abu Ahmad hat Rückenprobleme und kann nicht körperlich arbeiten. Ohnehin gibt es in Libanon kaum Möglichkeiten für die Syrer, legal Arbeit zu finden. «Ich würde alles geben, wenn ich auswandern und die Kinder in die Schule schicken könnte», sagt er.
Die Lage vieler Flüchtlinge wird zusätzlich erschwert, weil sie keinen legalen Aufenthaltsstatus haben. Libanon hat Anfang 2015 die Grenzen für syrische Flüchtlinge geschlossen und dem Uno-Hilfswerk nicht mehr erlaubt, neue Registrierungen vorzunehmen, auch nicht bei Flüchtlingen, die noch vor 2015 ins Land gekommen waren. Nun kommen Syrer auf Schmuggelwegen nach Libanon. Viele Jugendliche, die mit ihren Eltern legal ins Land gekommen sind, haben das Problem, dass sie mit dem Erreichen des 15. Altersjahres eigene Papiere brauchen und dafür nach Syrien zurückgehen müssten, um ihren Status sodann in Libanon legalisieren zu können. Weil das ein Ding der Unmöglichkeit ist, treten Jugendliche ab 15 oft automatisch in einen illegalen Status ein.
Männer ohne legalen Aufenthaltsstatus verlassen die Lager selten, weil sie fürchten, in eine Kontrolle zu geraten und verhaftet zu werden; bei Frauen und Kindern sind die Sicherheitskräfte nachsichtiger. Immer wieder nimmt die Armee Razzien in den Lagern vor, mit denen sie Extremisten aufspüren und die Kontrolle aufrechterhalten will. Der «Nebeneffekt», dass die Flüchtlinge sich nicht sicher fühlen, scheint dabei durchaus gewollt. Manchmal verhaftet die Armee jene, die keinen legalen Aufenthaltsstatus haben, und droht ihnen mit der Ausschaffung. Bis jetzt gibt es keine Hinweise auf eine Umsetzung der angedrohten Deportationen, doch viele leben in ständiger Angst.
Erzwungene Rückkehr?
Mike Bruce von der Norwegischen Flüchtlingshilfe sagt: «Unsere grösste Sorge ist eine Art Schneeballeffekt dieser Evakuierungen, der die Leute schliesslich zur Rückkehr nach Syrien bewegt. Das wäre keine freiwillige, sondern eine erzwungene Rückkehr.» Bruce betont, dass eine Rückkehr nicht freiwillig sei, wenn sie aufgrund einer prekären Sicherheitslage oder unter wirtschaftlichem Druck geschehe. Die humanitären Hilfswerke und Vertreter der Uno mahnen immer wieder, eine Rückkehr müsse auf freiwilliger Basis geschehen. Derweil besteht der Verdacht, dass soeben bereits eine Form der unfreiwilligen Rückschaffung von Tausenden Syrern realisiert worden ist.
Die libanesische Hizbullah-Miliz, welche Teile des Grenzgebietes kontrolliert, hat die Verantwortung für die «Rückkehr» Tausender Syrer übernommen. Dies geschah im Rahmen eines Abkommens mit syrischen Jihadisten des lokalen Kaida-Ablegers, welche libanesisches Grenzgebiet infiltriert hatten und im Juli im Rahmen einer Offensive des Hizbullah vertrieben wurden. Der von Iran unterstützte Hizbullah, der in Syrien aufseiten des Asad-Regimes kämpft, konnte sich so gleich doppelt profilieren: erstens als jene Kraft, welche die Kaida zu bekämpfen vermag, und zweitens als Pionier bei der Rückschaffung von Syrern in ihre Heimat.
Offiziell handelt es sich bei den «Rückkehrern» um Kämpfer und deren Familien; unabhängig lassen sich die Angaben nicht überprüfen. Internationale Hilfswerke konnten der Umsiedlung nicht beiwohnen. Sicher ist, dass unter ihnen viele Zivilisten waren. Zwischen 7000 und 10 000 Personen wurden aus dem Grenzort Arsal in Bussen in die nordsyrische Rebellenhochburg Idlib gebracht. Viele der «Rückkehrer» stammen nicht aus der Provinz Idlib. Schon deshalb kann nicht von Rückkehr gesprochen werden; vielmehr werden die Deportierten zu Binnenflüchtlingen.
Vom Krieg traumatisiert
Während Politiker überall von der Rückkehr der Flüchtlinge sprechen, überqueren immer noch neue Vertriebene die Grenze. Ein paar Zelte weiter treffen wir eine Familie, die vor wenigen Tagen erst aus Syrien eingetroffen ist. Eine Grossmutter, ihre Schwiegertochter und deren vier Kinder sind aus Deir al-Zur geflohen. Ihr Dorf war vom IS unterjocht worden. Zudem geriet es unter Beschuss wegen zweier Offensiven der kurdisch angeführten Truppen aus dem Norden einerseits und der syrischen Armee aus dem Westen andererseits. Der Vater der Kinder ist querschnittgelähmt und konnte deshalb nicht fliehen. Die Mutter kommt eben von der Arbeit vom Feld zurück, als wir uns ins Zelt setzen. Die Kinder wirken verstört. Der Schrecken des Erlebten scheint sich in ihre Gesichter eingebrannt zu haben.
Die Grossmutter erzählt, noch immer aufgewühlt, von der Flucht: Die Familie entkam zu Fuss im Dunkeln. Schmuggler halfen ihnen unter Luftangriffen den Weg durch Minenfelder zu finden. Nach sieben Tagen Fussmarsch durch die Wüste gelangte die Familie nach Hasaka im kurdisch kontrollierten Nordosten Syriens. Von dort reisten sie weiter zum Flughafen von Kamishli, wo sie ein Frachtflugzeug der Armee gegen Bestechungsgeld nach Damaskus brachte – eine Reise im Passagierflugzeug konnten sie sich nicht leisten. Von Damaskus gelangten sie mit einem Schmuggler nach Libanon. Die Reise hat die Familie insgesamt 1300 Franken gekostet, wie die Grossmutter uns vorrechnet. Jetzt ist die Familie pleite. Die alte Frau beendet ihre Erzählung mit den Worten: «Unser Land ist nicht mehr.» Sie beginnt zu weinen und wiederholt: «Unser Land ist nicht mehr. Unser Land ist nicht mehr.»
Eine Rückkehr birgt grosse Risiken
bol. Beirut · Lokale Kapitulationen von Rebellenhochburgen in Syrien enden meist mit einer Deportation der Aufständischen in die nordsyrische Provinz Idlib. Oft werden auch Zivilisten deportiert, die nicht zurück in vom Regime kontrollierte Gebiete wollen. Deshalb ist die humanitäre Lage in Idlib prekär. Von zwei Millionen Bewohnern sind fast die Hälfte Binnenflüchtlinge. Viele leben in Notunterkünften. Die Bewohner werden von Extremisten drangsaliert und geraten gerne ins Kreuzfeuer bei Kämpfen unter Milizen. Die dominanten Kräfte sind radikale Islamisten. Syrische, russische und manchmal amerikanische Luftangriffe töten immer wieder Zivilisten. Früher oder später ist eine Offensive auf Idlib absehbar. Aber auch die Rückkehr in Regime-Gebiete birgt Risiken. So manche Syrer fürchten, verhaftet zu werden, andere werden vom Regime an der Rückkehr in gewisse Viertel gehindert, weil sie der Illoyalität verdächtigt werden. Männer im Dienstalter wollen nicht zurück, weil sie sofort in die Armee eingezogen würden. Andere mussten feststellen, dass ihre Häuser in Trümmern liegen oder von Milizen leer geplündert wurden und dass es kaum Möglichkeiten gibt, sich ein minimales Auskommen zu sichern. Sosehr sich fast alle Syrer nach ihrer Heimat sehnen, so wenig realistisch ist eine Rückkehr für die meisten – und wird es noch eine Weile bleiben.