Zehn Jahre. In den meisten Ländern ist dies für Mädchen ein Alter, in dem alle Sorgen noch weit, weit weg sind. Was zählt, ist der Spielplatz, die Freunde, die Freiheit.
Zehn Jahre. In Ländern wie Syrien oder der Türkei ist dies für Mädchen ein Alter, in dem sie zum Teil bereits verheiratet werden. Was zählt, ist Jungfräulichkeit, finanzieller Rückhalt, Religion.
Wer allerdings denkt, Kinderheirat sei ausschließlich ein Problem arabischer oder asiatischer Staaten, der irrt sich. Kinderheirat ist ein weltweites Problem. Kinder werden auf jedem Kontinent, in jeder Kultur und in jeder Religion verheiratet.
700 Millionen Kinderehen
Mehr als 700 Millionen der heute weltweit lebenden Frauen wurden nach UN-Angaben schon im Kindesalter verheiratet. Die Zahlen sind in den vergangenen drei Jahrzehnten kaum zurückgegangen, berichtet Unicef.
Jeden Tag sind es laut der Frauenrechtsorganistion “terre des femmes” 41.000 Mädchen, die ihrem Partner vor dem 18. Lebensjahr das Ja-Wort geben oder geben müssen.
Das Problem: Die UN-Kinderrechtskonvention empfiehlt als gesetzliches Mindestheiratsalter 18 Jahre, in vielen Ländern ist die Heirat unter 18 aber dennoch gesetzlich erlaubt. Auch in Deutschland sind Ausnahmegenehmigungen möglich.
Ob es sich bei der Heirat Minderjähriger um eine erzwungene Ehe handelt, kann zudem nur schwer festgestellt werden – die Opfer schweigen, die Angst sich an jemanden zu wenden ist zu groß.
Ein selbstbestimmtes Leben ist ihnen fremd
Wenn Mädchen unter 18 Jahren verheiratet werden, verlassen sie laut Unicef häufiger die Schule als andere und sind öfter häuslicher Gewalt ausgesetzt. Rund 250 Millionen Mädchen würden sogar vor ihrem 15. Geburtstag verheiratet.
Besonders schwierige rechtliche Fragen entstehen, wenn die “Kinderbräute” nach Europa fliehen, um Asyl zu bekommen. Darüber diskutiert auch die niederländische und deutsche Justiz derzeit.
Deutschland uneins über Scharia-Ehe
In Deutschland ist die Lage kompliziert. Minderjährige Mädchen gelangen erstmal in die Obhut des Jugendamts. Beantragen sie Asyl, können sie versuchen, ihre Ehe anerkennen zu lassen. Es werde dann nach Einzelfall entschieden, so Juliane Baer-Henney, Sprecherin für Zivilrecht des Justizministeriums, in der “Welt”.
Aber die Justiz ist sich nicht einig, wie mit der Scharia-Ehe von Minderjährigen, die nach Maßgabe der religiösen islamischen Gesetzen geschlossen wurde, umzugehen ist.
In Aschaffenburg wurde ein junges syrisches Ehepaar nach seiner Flucht getrennt. Das 15-jährige Mädchen kam unter den Schutz des Jugendamts in Schöllkrippen, ihr 21-jähriger Ehemann blieb in der Erstaufnahmeeinrichtung in Aschaffenburg.
Die beiden wurden im Februar 2015 nach Scharia-Recht verheiratet. Für die deutsche Justiz entwickelt sich ihre Ehe zum Problemfall, da die 21-Jährige vor dem Familiengericht in Aschaffenburg protestierte. Das Paar besuchte anschließend die Integrationskurse nicht mehr.
Syrische Kinderehe könnte zum Präzedenzfall werden
Das Oberlandesgericht Bamberg kam zu einer anderen Auffassungen als das Familiengericht in Aschaffenburg; es konnte keine Zwangsheirat erkennen. Der Fall geht womöglich bis nach Karlsruhe vor den Bundesgerichtshof.
Das höchste deutsche Gericht könnte eine Grundsatzentscheidung treffen. Die Ehe der syrischen Minderjährigen würde zum Präzedenzfall.
Inzwischen darf das Paar wieder in Aschaffenburg zusammen wohnen. Die deutsche Botschaft im Libanon hatte zudem bestätigt, dass die Heirat in Syrien rechtmäßig gewesen sei, wie die “Welt” berichtet. Bei der Heirat im Februar 2015 war das Mädchen gerade erst 14 Jahre.
Zahl der Kinderbräute gestiegen
In den Niederlanden sorgte im vergangenen Jahr das Verschwinden der 14-jährigen Syrerin Fatema Alkasem für Aufmerksamkeit. Das Mädchen und ihr 24-jähriger Mann erschienen nicht zu einem Krankenhaustermin. Danach tauchten sie nie mehr in der Erstaufnahmeeinrichtung in Ter Alpel im Nordosten der Niederlande auf.
Seit dem Flüchtlingsstrom ist die Zahl der Kinderbräute in den Niederlanden massiv gestiegen. 2014 reisten laut Dokumenten der Immigrationsbehörde IND etwa zwei verheiratete Mädchen pro Monat in die Niederlande ein. Im Sommer 2015 sollen es drei pro Woche gewesen sein. Die Zahl habe sich also etwa versechsfacht.
”Risiko einer Vergewaltigung in Lagern ist hoch”
Die Mädchen werden oft schon im Alter von 13 oder 14 Jahren in Flüchtlingscamps in Syrien oder Jordanien mit Männern verheiratet, die deren Vater sein könnten. Bei der Verheiratung handelt es sich um ein Kalkül, um die Reinheit der Mädchen zu bewahren.
“In den Lagern ist das Leben gefährlich und das Risiko einer Vergewaltigung hoch. Damit stünden das Ansehen des Mädchens und die Familienehre auf dem Spiel: Ein vergewaltigtes Mädchen hat keine Zukunft, es lässt sich nicht mehr verheiraten”, sagt der Richard Jolling, Fraktionsvorsitzender der Gemeinde Ter Alpel, wo Fatme Alkasem verschwand, dem “Deutschlandfunk”.
In den Niederlanden sollten die Mädchen eigentlich unter die Obhut einer Jugendschutzorganisation gestellt werden. Dies bedeutet eine Trennung vom Ehemann.
Hilfsorganisationen kümmern sich allerdings nicht automatisch um die jungen Mädchen, sondern erst, wenn diese um Hilfe bitten. Das kommt nur selten vor.
Niederlande: Gesetz gegen Kinderehe
Nach dem Verschwinden von Fatema Alkasem und ihrem Mann hat die niederländische Politik eine Grundsatzentscheidung getroffen. Um potenzielle Opfer einer Kinderheirat zu schützen, wurde im Eilverfahren ein Gesetz verabschiedet, dass das Mindestalter für eine Heirat auf 18 Jahre festlegt. Ehen unter 18 Jahren, die im Ausland geschlossen wurden, werden ebenfalls nicht mehr anerkannt.
Die Verabschiedung solch eines Gesetzes wird nun auch in Deutschland diskutiert. Dafür müsste der Paragraf 1303 BGB und Regelungen im Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) geändert werden. Der Familiennachzug würde dadurch erschwert.
Im Einzelfall zu entscheiden, ob es sich bei der Kinderehe um eine Zwangsheirat oder freiwillige Eheschließung handelt, ist schwierig: “Deshalb ist es notwendig, dass sich die Gesetze ändern und eine Heirat unter 18 Jahren nicht mehr möglich ist“, erklärt Christa Stolle, Bundesgeschäftsführerin von “terre des femmes”.