Die Angst vor einem Bürgerkrieg hat Libanons Politik gelähmt und die Korruption begünstigt. Als Folge der Müllkrise ist jedoch eine neue Bürgerbewegung entstanden.
Ich komme hier einfach nicht weg», sagt Hussam Hawwa lachend und greift erneut zu seinem Handy. Es ist zehn Uhr abends, hinter uns drängen sich junge Leute an die Bar, der Barkeeper dreht die Musik auf. Hawwas Tag ist immer noch nicht zu Ende. Wir befinden uns in einem Szenecafé im Beiruter Viertel Badaro. Auf dem Tisch liegen Hawwas Laptop und ein Stapel Flyer, «Beirut Madinati – Beirut ist meine Stadt», steht darauf. Es sind Flyer für die Stadtratswahlen am Sonntag in Beirut. Hawwa ist einer von 24 Kandidatinnen und Kandidaten einer Bürgerbewegung, die in Beirut grosse Hoffnungen weckt.
Paralysierte Politik
Beirut Madinati verspricht, mit der Korruption und dem morschen System der Günstlingswirtschaft aufzuräumen, den erodierenden Service public zu retten und die Stadt lebenswerter zu machen. Die Kandidierenden sind weder Berufspolitiker noch einstige Warlords, und die Hälfte von ihnen sind Frauen. Es sind Architekten, ein Kardiologe, eine Biologin, der Vorsitzende des Fischereiverbandes. Hawwa ist Umweltingenieur und Gründer eines Startups, das sich auf Wassermanagement spezialisiert hat. Auch die Filmemacherin Nadine Labaki, die mit dem Film «Caramel» international bekannt wurde, kandidiert.
Die Engagierten arbeiten Tag und Nacht, veranstalten Fundraising-Events, verbreiten Werbevideos auf Facebook, sprechen mit den Leuten auf der Strasse. Viele Passanten reagieren begeistert, andere glauben nicht so recht, dass es eine politische Bewegung gibt, die nicht von irgendjemandem bezahlt wird. Die Facebook-Seite von Beirut Madinati hat in kurzer Zeit über 40 000 Likes gesammelt; Beirut hat etwa 360 000 Bewohner – Vororte, die eigene Wahlkreise bilden, nicht mitgerechnet. Die Zustimmung beflügelt: «Physisch sind wir am Ende. Aber moralisch geht es uns grossartig», sagt Hussam Hawwa und lacht.
Viele Libanesen gingen bisher aus Prinzip nicht wählen. Warum auch? Sie wollten keinem der korrupten Vertreter der alten Clans ihre Stimme geben. Weil das politische System seit der französischen Mandatszeit nach konfessionellen Gruppen aufgeteilt ist, haben sich nie politische Parteien etabliert. Nach dem Bürgerkrieg teilten die Warlords einfach Macht und Pfründen neu auf. Noch immer wählt man nach Zugehörigkeit zu Clans und Religionsgruppen. Die Landesregierung ist heute paralysiert. Unterschiedliche Haltungen zum Konflikt im benachbarten Syrien haben die Gräben der politischen Lager vertieft. Seit bald zwei Jahren hat Libanon keinen Präsidenten. Die Regierung ist laut einem Ranking des Weltwirtschaftsforums weltweit auf dem viertletzten Platz, was ihre Effizienz angeht.
Die Müllkrise als Auslöser
Weil eine radikale Veränderung im System erneut Bürgerkrieg bedeuten könnte, finden sich die Leute lieber mit der Situation ab. Gegen Stromausfälle kauft man Generatoren und erfindet Apps, die einen rechtzeitig warnen, wenn der tägliche Stromunterbruch ansteht. Man schimpft über die Mafias, die das Land regieren, und wenn der Staat kein Wasser liefert, kauft man Wasser in Tanks ein. Wofür man Steuern zahlt, weiss niemand so recht.
Letzten Sommer platzte jedoch vielen der Kragen, als selbst die Abfallentsorgung nicht mehr funktionierte. Der Müll türmte sich in den Strassen von Beirut, es kam zu Protesten unter dem Slogan «Ihr stinkt». Im März erst verkündete die Regierung eine neue Lösung für den Müll, welche die nächsten vier Jahre halten soll, indem sie einfach drei geschlossene Mülldepots wieder aufmachte. Die «Ihr stinkt»-Kampagne hatte Hoffnungen geweckt, dass die Libanesen die konfessionellen Gräben überwinden würden, um endlich eine Politik im Interesse der Bürger einzufordern. So weit kam es nicht, doch jetzt ist aus der Protest- eine Bürgerbewegung entstanden, die via Lokalwahlen Veränderung sucht.
«2013 schnitten sie uns den Strom ab. 2014 nahmen sie uns das Wasser weg. 2015 kam die Müllkrise. Und 2016 werden wir wegen der Umweltverschmutzung unser Gemüse nicht mehr essen können», so fasst es die Kandidatin und Schuldirektorin Maria Manok auf einer Wahlveranstaltung zusammen. Die Korruption in der Stadtregierung ging so weit, dass selbst das Angebot engagierter Bürger, kostenlos ein Recyclingsystem aufzubauen, nicht bewilligt wurde, weil niemand der Mächtigen daraus Profit schlagen konnte.
Beirut Madinati verspricht Recyclingsysteme, bezahlbaren Wohnraum, ein besseres Klima für kleine Unternehmen, eine nachhaltige Umweltpolitik, ein transparentes Budget. Die Gruppe geht mit gutem Beispiel voran und legt ihre Finanzen auf ihrer Website offen. Das mag viel Zustimmung finden, doch wie weit sie sich gegen die korrupten alten Strukturen durchsetzen kann, ist eine andere Frage. Ein weiteres Problem ist das überkommene Wahlrecht: Demnach wählt jeder dort, wo seine Familie herkommt. Gerade viele junge Städter dürfen gar nicht in Beirut wählen.
Hariri unter Druck
Hawwa sagt indes, sie hätten sogar die Unterstützung wichtiger Familien, die traditionell für das Lager des ehemaligen Regierungschefs Hariri stimmten. Alle seien angeekelt von Korruption und Missmanagement. Saad al-Hariri ist der Anführer jenes politischen Blocks, der von Saudiarabien unterstützt wird. In Beirut sitzen derzeit seine Leute in der Stadtregierung. Der andere Block, dem der Hizbullah angehört, ist in den Vororten stärker und wird von Iran unterstützt. Hariris Liste für die Stadtratswahlen kam spät – und enthielt zahlreiche Elemente, die fast wörtlich von Beirut Madinati übernommen schienen. Eines haben die Engagierten von Beirut Madinati damit jedenfalls erreicht: Der politische Diskurs hat sich verändert.