Am Ende verbietet sich Europa selbst”: Türkischer Starjurist zur Debatte um Vollverschleierun

-Deutsch lüftet das Geheimnis um den Schleier in einem Gespräch mit Prof. Dr. Adem Sözüer, dem Dekan der berühmten Istanbuler Jura-Fakultät. Wir wollten wissen, wie die europäische Debatte wirkt, wenn man sie aus der Ferne betrachtet.

Bereits seit mehreren Monaten scheint das Thema der Vollverschleierung die Menschen in Europa stärker zu bewegen als beispielsweise Debatten über Armut oder Arbeitslosigkeit. RT hat den Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, Prof. Dr. Adem Sözüer, dazu interviewt, der in der Türkei selbst miterlebt hatte, wie die dortige Kopftuchdebatte jahrzehntelang die Gesellschaft gespalten hat. 

Olga Banach: Sehr geehrter Herr Dr. Sözüer, erzählen Sie uns doch bitte, wie es zu der Aufhebung des Kopftuchverbotes an den türkischen Schulen und Universitäten kam. Ich weiß, dass sie daran nicht unbeteiligt waren.

Adem Sözüer: Gegen dieses Verbot, das eigentlich gar keines war, habe ich eine große Aktion durchgeführt. Und dies zum ersten Mal an einer staatlichen Universität. Der auslösende Moment war der Besuch von Erasmus-Studenten aus Deutschland. Ich habe sie zum Essen ins Professorenhaus der Universität eingeladen. Beim Essen hat eine Studentin angefangen zu weinen. Ich fragte sie, warum. Sie antwortete: “Meine Großmutter wollte mich besuchen und sie ist sehr alt, fast 80 Jahre und sie kam aus einer anderen türkischen Stadt nach Istanbul. Sie wollte zur Uni kommen, aber man hat ihr den Eintritt wegen ihres Kopftuchs verwehrt.” Ich habe gesagt, das gehe so nicht und sie gebeten, ihre Großmutter anzurufen, zurückzukommen. Ich habe dem Sicherheitspersonal gesagt, dass niemandem der Eintritt verweigert werden dürfe. Dann habe ich eine weitere Situation kreiert und eine Frau mit Kopftuch in mein Büro gebracht. Die Polizei wollte sie herausholen. Ich habe mich dagegen gewehrt und ihnen gesagt, dass sie erst einen richterlichen Beschluss vorlegen müssten.

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Gesetzlich gab es ja gar kein Verbot. Es war nur ein rein faktisches Verbot. Laut türkischem Gesetz darf sich jeder so kleiden, wie es ihm gefällt. Das Verbot war faktisch und dieses aufzuheben war eine lediglich faktische Situation. In einigen Berufen gab es spezielle Regelungen und Verordnungen für bestimmte Einzelfälle. Es gab kein Verbot. Ich wusste das und habe jahrelang dagegen angekämpft. Auch ich habe eine persönliche Geschichte hierzu, aus einer Zeit, da meine Mutter mich an der Universität besuchen wollte. Damals war ich noch Dozent. Sie sagte: “Mein Sohn, du bist Dozent geworden ich will dich an der Universität besuchen.” Aber der Sicherheitsdienst hat sie nicht reingelassen. Ich war über alle Maßen wütend. Ich denke, solche Verbote erzeugen nur Probleme.

Wenn wir eine pluralistische Gesellschaft wollen, haben diese Verbote keine Berechtigung. Aber wenn wir eine Gesellschaft möchten, in der alle gleich sind, dann ist dies etwas Anderes. Dann haben wir aber keine pluralistische Gesellschaft. Man muss sich entscheiden. Aber leider, sobald die Politiker ein Problem sehen, reagieren sie mit Verboten. Sie haben eine Sucht nach Verboten. Dies ist wie mit dem Rauschgiftverbot. Auch dieses erzeugt nur Probleme durch die Kriminalität, die hierdurch entsteht. Statt Verbote, statt Strafen: Wir müssen erst rational denken und versuchen, zu verstehen. Genauso wie beim Terrorismus. Die großen Kriege gegen den Terrorismus werden immer mehr. Insbesondere seit dem 1. September. Es kommt kein Ende und das schafft immer neue Probleme.

Wir, die Türkei, haben das Problem nach Europa exportiert, um diese Debatte zu führen. Nach den Anschlägen in Frankreich diskutiert man darüber. 

Olga Banach: Gibt es in der Türkei gesetzliche Einschränkungen in Bezug auf Burka, Nikab, Burkini? Wie ist die Rechtslage? Wo sind Kopftücher noch verboten?

Adem Sözüer: Es gibt natürlich Grenzen. Ich, als Professor, muss die Identifikation eines Menschen kennen, um jemanden durchs Examen zu bringen. Da muss man Gesicht zeigen. Das sind ganz wenige Ausnahmen. Das Problem ist nicht: Burkiniverbot oder Schleier. Es geht vielmehr darum: Was ist eine pluralistische Gesellschaft? Ich denke da auch an das muslimische und jüdische Beschneidungsgebot von Jungen. Es wird diskutiert und eine Rechtsgrundlage gesucht. Wo soll dies hinführen?

Olga Banach: Haben Sie die Debatten in Europa mitverfolgt? Wo endet die Demokratie?

Adem Sözüer: Wenn man anfängt zu verbieten, was soll da noch kommen? Burkinis am Strand zu verbieten? Es ist wirklich schade, dass man so große Erfahrungen mit Demokratie und Freiheit in Europa hat und sich jetzt in die andere Richtung bewegt. Nach dem Mauerfall waren wir sehr optimistisch, dass es mehr Freiheit und mehr Toleranz geben würde. Die Richtung ist jetzt aber die umgekehrte.

Olga Banach: Es gibt so viele Fragen, die im Zusammenhang mit muslimischer Einwanderung in Europa die Gemüter bewegen. Aus der Ferne betrachtet: Wie sehen Sie die Entwicklungen in Deutschland nach den jüngsten Anschlägen? Sorgen Sie sich um Islamophobie? Manche Leute sind der Meinung, dass rassistische Äußerungen gegenüber Muslimen nun salonfähig geworden sind. Immer wieder gibt es die Debatte, was islamisch und was unislamisch ist. Gehört das Kopftuch zum Islam oder nicht? Wo sollte die Toleranz enden?

Adem Sözüer: In der Türkei wurden homosexuelle Kontakte nie bestraft. Aber in Europa war dies lange strafbar, zum Teil noch bis vor 20 Jahren. Jetzt akzeptiert man die Homoehe. Warum? Weil man sieht, dass es eine Entscheidung für die Selbstbestimmung ist. Einerseits ist man diesbezüglich sehr freiheitlich, aber wenn es um den Islam geht, hat man viele Ängste. Man hat viele Sorgen. Eine große Sorge ist der Terrorismus. Solche Verbote sind für Terroristen ein Nährboden.

Aber wenn ich in Europa wäre und dort täglich in die Presse schauen würde, hätte auch ich große Angst. Die Berichterstattung ist für den Normalbürger beängstigend. Es bräuchte bekannte Personen des öffentlichen Lebens, wie den leider verstorbenen Günter Grass, die sagen, dass dies in die falsche Richtung läuft. 
Ich war vor vier Wochen in Freiburg habe mich dort mit einem deutschen, einem griechischen und einem libanesischem Freund getroffen. Der Libanese fragte: Wann kommst du in den Libanon? Der Deutsche: Das ist gefährlich. Ich regte an: Aber du solltest nach Istanbul kommen. Der Deutsche: Ich kann auch nicht nach Istanbul kommen. Aber nach Griechenland? Da gibt es zu viele Flüchtlinge.

Wir scheinen alle in einem Gefängnis zu sitzen. Europa braucht eine neue Freiheit. 
Europa hat so viele Erfahrungen mit Verboten, mit Kriegen, anscheinend haben wir ganz wenig gelernt, wenn ich mir die heutige Lage anschaue. 
Eine Gesellschaft, in der alle gleich sind, ist langweilig. So wie jetzt kann es nicht weitergehen. Wir müssten einen Moment innehalten und feststellen, dass wir unterschiedlich sind und mehr Toleranz brauchen. Aber da müssten dann auch alle mitmachen. Wir brauchen mehr Frieden, sonst gibt es überall nichts als Krieg: In Afghanistan, Irak, Libyen, Jemen, Syrien… deswegen haben wir die Flüchtlingsprobleme.

“Konservativen ist immer die Mutterschaft wichtig.”

Das politische Klima in Europa hat sich verändert. Auch die Mentalität Frankreichs gehört der Vergangenheit an. Die Verbote gelten ja auch nur für die Frauen. Männer können baden, wie sie wollen. Was war die französische Kultur? Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Aber wohin gehen die französischen Freunde jetzt? Wir in der Türkei haben so viel Mitleid, wenn etwas in Europa passiert. Aber in der Gegenrichtung ist dies nicht mehr so.

Olga Banach: Die Debatte hat zumindest dazu geführt, dass sich nun auch der Durchschnittsdeutsche und Durchschnittsfranzose zumindest ansatzweise mit den Arten muslimischer Bekleidungen auskennt. Seit der Wahl Erdoğans sieht man in der Türkei immer mehr Frauen mit Kopftuch auf Werbeplakaten. Seine Frau und seine Tochter tragen ebenfalls Kopftuch. Atatürk hatte eine strenge Trennung von Religion und Staat gefordert und das Kopftuch aus den öffentlichen Gebäuden verbannt. Im Jahr 2013 aber ging ein Bild um die Welt, welches eine türkische Politikerin mit Kopftuch zeigte, die so das Parlament betrat.