Seitdem er im Juli 2017 lanciert wurde, fährt der BibBus des Goethe-Instituts Libanon mit 2500 Büchern und Spielen ausgestattet, durch den Zedern-Staat. Am Tag, an dem er vor dem Women Now-Zentrum in Majdal Anjar in der Bekaa-Ebene, im Zentrum des Libanons, hält, wartet eine Gruppe Kinder, trotz der Kälte, gespannt draußen.
Bevor die libanesische Geschichtenerzählerin Randa Abu Husn mit ihrer Stunde anfangen kann, fragen zwei der zwölf anwesenden Kinder, ob sie eine Geschichte vorlesen können. Der zwölf-Jahre alte Taha macht dies mit offensichtlicher Freude, neben dem „Soubia“ (Ofen) stehend, das Buch in einer Hand, begleitende Gesten mit der anderen Hand.
Taha liebt Abu Husn‘s Geschichtsstunden und deren kreativen Momente, die zur Umsetzung der Mission des Busses – benachteiligten Kindern einen nachhaltigen Zugang zu Bildung zu ermöglichen – beiträgt. Der Buchbestand des Busses ist auf Arabisch und schließt auch eine weitreichende Anzahl von Titeln ein, die ursprünglich in anderen Sprachen geschrieben wurden. Werner Holzwarths „Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat” hat sich bisher unter den jungen LeserInnen als das beliebteste Buch erwiesen.
Während ihrer Geschichtsstunden greift Abu Husn auf verschiedene Techniken zurück: manchmal erzählt sie den Kindern Geschichten, welche diese aufmerksam und mit strahlenden Augen verfolgen. Sie benutzt oft auch Zeichnungen, um die Vorstellungskraft der Kinder zu fördern und sie anzuregen, eine Geschichte zu verfassen oder sie erzählt traditionelle Geschichten wie „Abla und Antar“, um ihr junges Publikum mit seinem literarischen Kulturerbe vertraut zu machen.
An diesem Tag liest sie den Kindern Oliver Jeffers Buch „Kleiner Sternenfänger“ vor. Dann verteilt sie Kärtchen, auf denen die Kinder eine Papierleiter und einen Stern kleben und daraufhin eine Figur malen, welche die Leiter emporsteigt, um den Himmelskörpern näher zu kommen. Am Ende der Erzählstunde geben die Kinder ihre beim letzten Mal ausgeliehenen Bücher zurück und suchen sich neue unter den 50 Büchern in der BibBus-Bücherbox aus.
Nach Majdal Anjar fährt der Bus nach Emm Ammar, ein provisorisches Flüchtlingslager, von landwirtschaftlichen Nutzflächen umgeben, wo Alphabet, eine lokale Organisation, versucht elementare Bildung zu bieten. Die Kinder, die an der Stunde teilnehmen, leben in provisorischen Behausungen und werden in solchen unterrichtet. Auch hier ist der Hunger nach Geschichten und kreativen Aktivitäten groß.
Der vom Auswärtigen Amt geförderte BibBus besucht auch die Maarouf Saad-Stiftung in Sidon sowie Basmeh & Zeitooneh in Tripoli und arbeitet eng mit dem Projektpartner Assabil zusammen, welcher die Lesefähigkeit von Kindern fördert und Schulen, die keine Bibliotheken haben, Bücher zur Verfügung stellt.
„Durch Spiele, Theater, interaktive Lesungen und Puppenspiel versuchen wir die Vorstellungskraft in Kindern zu wecken und ihre Lesefähigkeiten zu verbessern“, bemerkte Assabils leitender Koordinator, Ali Al-Sabbagh.
„Unser Bücherbus, der Kotobus, bereist den Libanon seit 10 Jahren und arbeitet in öffentlichen Schulen, Flüchtlingslagern, provisorischen Flüchtlingslagern und benachteiligte Regionen. Wir haben mit nicht-alphabetisierten syrischen Kindern, welche unsere Trainer ein Jahr lang regelmäßig besucht haben, dank visueller Bildung einigen Erfolg gehabt.“
Obwohl es unterschiedliche Stile gibt, hat die Erzählkunst in der Levante und der arabischen Welt eine lange und glanzvolle Tradition. In Syrien und dem Libanon saßen traditionelle Geschichtenerzähler, Hakawati genannt, in Cafés auf einem hohen Stuhl.
Der libanesische Geschichtenerzähler Jihad Darwiche unterstreicht, dass der Hakawati keine Märchen erzählte, sondern – wie Abu Husn manchmal auch – epische Geschichten wie „Abla und Antar“. Dabei unterteilte der Hakawati die Geschichte in einzelne Episoden mit offenem Ende, damit die Zuhörer zur nächsten Episode wiederkommen. Der Hakawati wusste, wie man moralische Lehren in einer Geschichte unterbringt, wie man gekonnt Metaphern nutzt und wie man mit Dialekten spielt. Nachdem er sein Repertoire ausgeschöpft hatte, machte er sich zu einem neuen Schauplatz auf. Laut Darwiche starb der letzte Hakawati des Libanons 1972.
„Meine Mutter war eine begnadete Geschichtenerzählerin. Ihr Repertoire schloss Märchen, Legenden, Geschichten und Sprichwörter, die im Dialekt erzählt wurden, mit ein“, hebt Darwiche hervor. „Das war meine informelle Allgemeinbildung, die mir soziale Beziehungen, Erzählstruktur und die Fähigkeit, auswendig zu lernen vermittelte, denn wir hatten keine Bücher zuhause und meine Mutter war Analphabetin.
„Die Wirkungsmacht einer Geschichte wird durch menschliche Erfahrungen befeuert, die uns vorausgehen. Sobald ich mich an jemanden richte, wird diese Person sich darüber Gedanken machen, wie sich die Geschichte fortsetzen wird – es gibt also immer eine interaktive und meist auch eine universelle Dimension in den Geschichten, die wir erzählen.“
Darwiche hat es sich zum Lebenswerk gemacht, diese epische, alte Tradition am Leben zu erhalten; er bildet Geschichtenerzähler aus und tritt auf der ganzen Welt und auch auf dem jährlichen Festival „Du Conte et Monodrame“ im Libanon auf.
Die Beliebtheit, welche Geschichtenerzählen weltweit und auch im Libanon erfährt, dreht sich, laut Darwiche, hauptsächlich um persönliche Erzählungen: „Seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges ist die Redefreiheit eingeschränkt. Der Bürgerkrieg hat Narben hinterlassen – doch die Macht der Rede ist sehr wichtig.“
„Es gibt eine Renaissance und gleichzeitig ein Bedürfnis nach dem Geschichtenerzählen“, sagt Dima Matta, die Englisch und kreatives Schreiben an der Balamand Universität unterrichtet. „Auf eine Art und Weise ist Geschichtenerzählen eine Form von Aktivismus; es wehrt sich gegen Schweigen, gegen Regierungen, die uns keinen öffentlichen Raum zugestehen, gegen das Vergessen. Persönliches Geschichtenerzählen hat etwas Befreiendes, Bestärkendes.“
„Cliffhangers“ wurde 2014 ins Leben gerufen und „Hakaya Storytelling“, eine weitere aktive Gruppe, die sich meist in Beirut trifft, wurde 2016 gegründet. Matta hatte sich ursprünglich zum Ziel gesetzt, Studenten zusammenzubringen, um Geschichten zu erzählen und um die alte Tradition des Erzählens im Libanon wiederbeleben und am Leben zu erhalten. „Im Lauf der Jahre ist unser Publikum immer mehr gewachsen und hat sich bunt durchmischt“, sagte sie. Bei den monatlichen Veranstaltungen, die sich oft mit soziopolitischen Themen beschäftigen, darf sich das Publikum mit einbringen.
„Es mag schon sein, dass wir alleine sind, wenn wir auf der Bühne eine Geschichte erzählen, doch ist es trotzdem ein geteiltes Erlebnis“, verkündete Matta. Der für sie herausragende Abend war die LGBTQ+ Veranstaltung im Rahmen der Beirut Pride Week im Mai 2017, als 400 Personen sich auf dem Dach von „Station“ zusammendrängten, aufmerksam den ErzählerInnen zuhörten, klatschten und mitfühlten. Die Open-Mic-Session dauerte mehrere Stunden an.
Ebenso wie zeitgenössisches Geschichtenerzählen inzwischen eine wichtige Plattform darstellt, um Menschen zusammenzubringen und persönliche, teils befreiende Erfahrungen zu teilen, kann man nur hoffen, dass junge Köpfe, die mit Büchern und Geschichten angeregt werden, ihre Vorliebe für Bücher entdecken und in den Genuss all der Vorteile kommen werden, die das Lesen und Geschichtenerzählen mit sich bringen kann.
„Man hat das Gefühl, dass das Bereitstellen von Büchern und das Erzählen von Geschichten nicht genug ist“, gab Abu Husn zu, als sie Emm Ammar verließ. Doch dann holte sie „Der Sternfänger“ aus ihrer Tasche und fügte hinzu, dass das Buch eine einfache, klare Botschaft habe: „Versuche Deine Träume zu erfüllen und Du wirst sie vielleicht auf unvorhergesehene Weise erreichen.
Quelle https://www.goethe.de/ins/lb/de/m/kul/mag/21173774.html