Hinter den Bergen liegt der Krieg, manchmal hört man ihn. Und auch auf dieser Seite, in der libanesischen Bekaa-Ebene, hat er das Leben verändert. Das kann man knapp zehn Kilometer von der Grenze zu Syrien entfernt sogar riechen. Wie an vielen Orten im Libanon gärt es in der Gemeinde Bar Elias. Technisch ist das Problem schnell erklärt: Der Müll, den sie hier unbehandelt und unsortiert auf die Deponie schieben, türmt sich ohne Dränage in den Himmel, das Wasser fließt nicht so ab, wie es müsste. Gesund kann es nicht sein, wenn direkt nebenan das Gemüse auf dem Feld steht und ganz in der Nähe ein kleiner Fluss rinnt. Den Menschen hier stinkt es langsam, und dabei denken sie nicht nur an den Abfall.
Bar Elias im Libanon
Deshalb sind die Männer dankbar für das Deponie-Projekt und viele andere, die ausländische Geldgeber ermöglichen. Seit in Syrien vor fünf Jahren der Krieg ausbrach, muss sich der kleine Libanon einer gewaltigen Aufgabe stellen: Offiziell sollen mittlerweile zwischen 1,1 und 1,2 Millionen Menschen aus dem Nachbarland hier Schutz suchen, doch es könnten nach manchen Schätzungen auch zwei Millionen und mehr sein – damit wäre bei rund viereinhalb Millionen Einwohnern fast jeder Zweite ein syrischer Flüchtling. Dazu gehören auch Zehntausende Palästinenser, die vor allem aus dem Lager Jarmuk bei Damaskus fliehen mussten, das vom “Islamischen Staat” überrannt wurde. Insgesamt beherbergt der Libanon nun weit mehr als 300.000 Palästinenser, viele schon seit Jahrzehnten. Auf dem Papier ist die Grenze schon seit dem vergangenen Jahr geschlossen, es werden auch keine Syrer mehr registriert. In Bar Elias wissen sie: Das ist nur ein politischer Schritt, der die Zahlen im Zaum hält, mit der Realität hat das nichts zu tun.
Doch die bisher enorme Hilfsbereitschaft der Bevölkerung wird insbesondere in der Bekaa-Ebene auf eine harte Probe gestellt. Arbeiten dürfen die Syrer im Libanon nicht. Die meisten tun es trotzdem, weil sie mit den UN-Hilfen oder Leistungen anderer Organisationen nicht über die Runden kommen; weil sie ohne Registrierung gar keine Unterstützung bekommen können; oder schlicht weil sie ihre Chancen nutzen, wenn die Behörden nicht in der Lage sind, ihre Regeln konsequent durchzusetzen. “Sie machen Läden auf, die dasselbe anbieten wie unsere hier oder sogar geschmuggelte Produkte aus Syrien, sie machen die Jobs zum Beispiel auf dem Bau für viel weniger Geld, und die Mieten schnellen in die Höhe – nicht alle Flüchtlinge sind arm”, sagt Abdulghani Aragi, ein Verwandter des Bürgermeisters von Bar Elias, der als Ingenieur an der Planung der Deponie beteiligt war. Für eine kleine Unterkunft mit zwei Zimmern zahlte man früher 100 Dollar im Monat, inzwischen werden bis zu 500 verlangt.
Die meisten Syrer im Libanon finden irgendwo in den Städten und Gemeinden Zuflucht, sei es auch nur in einem kleinen Bretterverschlag unter einer Treppe, wenn es für ein Zimmer oder eine Wohnung nicht reicht. Wer anders nicht unterkommt, lebt in einer der Zeltsiedlungen, die sich in der Bekaa-Ebene hundertfach entlang der Straßen reihen, während es offiziell gar keine Flüchtlingslager der Syrer gibt. Die Plätze, wo sie doch entstehen, verpachten die Landbesitzer zum Beispiel für 800 Dollar pro Jahr und Zelt.
In Saadnayel, einem Nachbarort von Bar Elias, sitzt die 28-jährige Gosa mit ihrem kleinen Sohn im Freien zwischen den schmutzigen Planen, die nun ihr Zuhause sind, und schneidet Zwiebeln. Das Haus ihrer Familie in der Nähe von Aleppo ist komplett zerstört, vor vier Jahren kam sie mit ihrem Mann in den Libanon, sie hatten zwei Jahre zuvor geheiratet, die drei Kinder wurden erst hier geboren. “Die Libanesen sind sehr gut zu uns”, sagt Gosa. Anfeindungen oder sogar Übergriffe hat sie nicht erlebt. Im Gegenteil. Wenn sie zum Arzt gehe, erzählt sie, frage der erst einmal, wie viel sie von den UN bekomme und berechne entsprechend weniger. Gosa hat ganz andere Probleme.
Denn von ihrem Man hat sie sich vor einem Jahr getrennt: “Er heiratete eine andere Frau und brachte sie mit in unser Zelt, wie sollte das gehen?”, sagt Gosa. Also verließ sie ihn und lebt jetzt in einem anderen Camp; ihr Bruder nahm sie auf, auch ihre Mutter ist hier. Zwei der Kinder sind aber immer noch beim Vater, und er hat die Papiere der Familie. Deshalb hat Gosa Angst: “Wie soll ich beweisen, dass ich Kinder habe, dass die drei meine Kinder sind, damit ich für sie Unterstützung bekomme?” Die junge Frau will die Scheidung und hofft, dass dann alles geregelt werden kann. Es gab auch schon einen Termin, aber ihr Mann tauchte einfach nicht auf. “Ich habe ihn seit drei Monaten nicht mehr gesehen”, sagt Gosa. Irgendwann, hofft die Syrerin, wird sie in ihre Heimat zurückkehren können. Bis dahin muss sie für sich und die Kinder ein Leben in der Fremde organisieren – eines, das ihnen die Chance auf eine Zukunft ermöglicht.
Die Zukunft gerade der Kinder bereitet auch libanesischen Politikern große Sorgen. Deren Blick auf die Flüchtlingskrise ist zugleich, wie so oft in diesem Land, von Sicherheitsfragen geleitet. Ende Juni etwa sprengten sich in Al-Kaa im Norden der Bekaa-Ebene gleich mehrere Selbstmordattentäter in die Luft und töteten mindestens fünf Menschen – nicht zum ersten Mal, insbesondere der “Islamische Staat” hat sich zu zahlreichen Anschlägen im Libanon bekannt. In Al-Kaa und vielen anderen Orten bilden die Bewohner mittlerweile Bürgermilizen, die bewaffnet auf Streife gehen, weil sie sich von den Sicherheitskräften des Staates nicht ausreichend geschützt fühlen.
“Im Zentrum einer verrückten Welt”
Nabil de Freige, Staatsminister für Verwaltungsreformen und Parteimitglied der sunnitisch dominierten Zukunftsbewegung von Saad al-Hariri, kommt beim Mittagessen in Beirut direkt auf die Terrorgefahr zu sprechen: “Warum werden die Menschen zu Extremisten? Weil sie verzweifelt sind und sich erniedrigt fühlen.” Zugleich sei es das Einfachste der Welt, in der Region Waffen zu beschaffen – “wir sind hier im Zentrum einer verrückten Welt” –, und die Grenze zwischen Syrien und dem Libanon könne man nicht vollständig kontrollieren, zumal wenn sich die libanesische Hisbollah am Krieg beteilige. Deshalb müsse es schnell eine politische Lösung geben, um den Krieg zu beenden. Nur eines werde noch dringender gebraucht, sagt de Freige: Schulen.
Grob die Hälfte der syrischen Flüchtlinge im Libanon sind Kinder. “Hunderttausende gehen nicht zur Schule, können nicht lesen und schreiben – was glauben Sie, wo die enden werden? Sie werden von den Extremisten rekrutiert”, warnt auch Yassine Jaber, Parlamentsabgeordneter der schiitischen Amal-Partei und früherer Wirtschaftsminister. “Wir müssen verhindern, dass diese Generation verlorengeht”, sagt der Politiker und schaut aus seinem Bürofenster in Beirut in die Ferne. Der Libanon selbst ist dazu immer weniger in der Lage: Der Krieg nebenan hat die Wirtschaft schwer getroffen, die vielen Flüchtlinge bringen weitere Probleme mit, und währenddessen blockiert sich die Politik im Land selbst. Seit dem Frühjahr 2014 sind alle Versuche gescheitert, einen neuen Staatspräsidenten zu wählen, mehr als zehn Jahre ist es her, dass ein regulärer Haushalt verabschiedet wurde. Jaber zieht daraus den Schluss: “Wir brauchen keine Belehrungen, wir brauchen Geld.” Wenn es einfach so weitergehe wie bisher, werde alles zusammenbrechen – “und dann wird auch Europa ein großes Problem bekommen”.
In Bar Elias am Rande der Müllkippe haben sich die Gemüter wieder etwas beruhigt. “Wir sind es gewohnt, dass die Regierung uns vernachlässigt”, sagt Bürgermeister Mawas Aragi. In der Runde nicken alle still. Viele betonen eindringlich ihr Verständnis für die Lage der syrischen Flüchtlinge. Der Punkt, an dem die Gastfreundschaft in der Bekaa-Ebene überbeansprucht würde, sei zwar bald erreicht, aber eben noch nicht jetzt. Nur eines will Aragi ganz deutlich machen, er senkt den Kopf mit steinernem Blick und sagt: “Wir werden niemals akzeptieren, dass sie für immer bleiben.”
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