Mehr als eine Nebengeschichte – Frauenrechte, Rollenbilder und Geschlechterpolitik in Ägypten

Die Ausstellung ‚Sidewalk Stories – Women in Cairo’s Public Spaces‘ diskutiert im Rahmen zweier Eröffnungen mit anschließenden Podiumsdiskussionen in Berlin und Hamburg gegenwärtige Handlungsspielräume für Frauenrechte am Nil. Von Anna-Theresa Bachmann

Die Lebenswelten von Frauen nehmen historisch betrachtet in Diskursen über nationale und gesellschaftliche Projekte oft eine gesonderte Stellung ein, so auch in Ägypten. Im Hinblick auf die Geburtsstunde des modernen ägyptischen Nationalismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, warf die Wissenschaftlerin Beth Baron dazu die Frage auf: „Werden Frauen zu Symbolen, weil sie bereits ausgeschlossen wurden, oder werden sie ausgeschlossen weil sie Symbole sind?“[1]. Deutlich zu Tage trat dies beispielsweise an der Rhetorik und den Reformen der „Freien Offiziere“ unter Gamal Abdel Nasser, auf dessen Tradition sich auch die heutigen Militärs berufen. Damals wurde Frauen eine zentrale Rolle bei der Modernisierung der Gesellschaft zugewiesen, progressive Stimmen in Bezug auf Frauenrechte und Politik gleichzeitig jedoch unterdrückt.[2]

Beide dieser Mechanismen, waren auch im Rahmen der Massenproteste 2011 zu beobachten, als am 25. Januar der Aufstand gegen den ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak auf dem Kairoer Tahrir-Platz seinen Anfang nahm und die Weltöffentlichkeit teils gespannt, teils verwundert auf den hohen Anteil rebellierender Frauen blickte, welche oftmals als Zeichen des Aufbruches stilisiert wurden. Weibliche Stimmen wie das Mitglied der Jugendbewegung des 6.April, Asmaa Mahfouz, die in den sozialen Netzwerken zum Protest am 25. Januar aufgerufen hatte, wurden zum Gesicht der Veränderung. Frauen, die sich indes um die Kinder kümmerten, die Finanzen regelten oder sich im Nachbarschaftsschutz organisierten, während ihre Brüder, Väter oder Männer „Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit“ einforderten, wurden indes weitaus weniger heroisiert als diejenigen, die Seite an Seite mit ihren männlichen Mitstreitern demonstrierten. Zudem häuften sich bald auch die Berichte über Massenübergriffe auf Protestantinnen, die damit massiv in ihrer politischen Teilhabe behindert wurden.

Auch heute, fünf Jahre später, sehen sich Frauen im öffentlichen Raum Ägyptens weiterhin verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Hindernissen ausgesetzt, von denen sexualisierte Gewalt und sexuelle Belästigung im täglichen Leben zwei der Hauptpunkte darstellen. Was ist von der anfänglichen Euphorie 2011 geblieben und welche Möglichkeiten ergeben sich daraus heute im Bereich des Aktivismus sowie des Alltäglichen? Einen kleinen Einblick gibt die Ausstellung „Sidewalk Stories – Women in Cairo’s Public Spaces“, die in den kommenden Tagen in Berlin und Hamburg eröffnet wird. Während die Bilder und Statements der Ausstellung versuchen die subjektiven Alltagserfahrungen von Frauen im öffentlichen Raum Kairos einzufangen, betten zwei Podiumsdiskussionen die Exponate in den bestehenden gesellschaftlichen und politischen Rahmen ein.

Der Diskurs um sexualisierte Gewalt und sexuelle Belästigung im Zuge der Massenproteste 2011

Die 18 Tage des Aufstandes im Jahr 2011, die im Rücktritt Mubaraks mündeten, kamen für Beobachter_innen der ägyptischen Zivilgesellschaft weit weniger überraschend als für die allgemeine Weltöffentlichkeit: Ab der Mitte der 2000er Jahre hatte sich zivilgesellschaftlicher Protest sowohl gegen die sozioökonomischen Verhältnisse als auch gegen internationale Politik verstärkt. In diesem Rahmen nahm auch alter und neuer frauenrechtlicher Aktivismus durch die Wiederbelebung und Neugründung von Initiativen und NGOs an Fahrt auf.

Gleichzeitig zur erstarkenden Zivilgesellschaft jener Zeit wurde (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen und Männer in der Öffentlichkeit systematisch als Mittel der Unterdrückung und Einschüchterung eingesetzt: Im Mai 2005 fand im Rahmen des Verfassungsreferendums über die zukünftige Regelung des Präsidentschaftspostens eine von Kifaya organisierte Demonstration in Kairo statt. Dabei kam es zu sexuellen Übergriffen gegenüber Protestantinnen durch Polizeikräfte und der Baltageyya, den von der Regierung bezahlten Schlägertruppen.

Die Vorfälle führten zu einer erneuten Diskussion über sexuelle Belästigung, nachdem der 1993 unter dem Namen Atatba Girl bekannt gewordenen Fall bereits hohe Wellen im In-und Ausland geschlagen hatte. Damals war eine junge Frau an der gleichnamigen Kairoer Bushaltestelle angegriffen und sexuell belästigt worden. Die umstehenden Passant_innen griffen jedoch nicht ein. Nach einer kurzen Phase der Empörung versiegte das öffentliche Interesse jedoch. Die NGO Egyptian Center for Women Rights (ECWR) griff das Thema der sexuellen Belästigung 2005 schließlich auf und rief eine Kampagne für „sichere Straßen für alle“ ins Leben. Verstärkt wurde die öffentliche Diskussion auch durch die sich 2006 ereigneten Massenübergriffe auf Frauen in der Kairoer Innenstadt im Rahmen der Eid Al-Fetr Feierlichkeiten.

Die öffentliche Diskussion über sexuelle Belästigung war damit zwar erneut angestoßen, jedoch stellte allein die sprachliche Bezeichnung und inhaltliche Definition eine Herausforderung dar: Verschiedene Akteur_innen, wie etwa ECWR oder die 2005 gegründete NGO Harassmap, haben seither versucht den Begriff al-taḥarruš al-ǧinsy zu etablieren, der im Gegenzug des gebräuchlichen Begriff muʿaksa (Flirten) als sexuelle Belästigung übersetzt werden kann und eindeutig negativ konnotiert ist.

Anders als in dem von Harassmap und ECWR vertretenen Ansatz, der sexuelle Belästigung als gesellschaftliches Problem markiert und nicht den Staatsapparat als Täter benennt, betonen Akteur_innen wie die NGO Al-Nadeem Center for the Rehabilitation of Victims of Torture die staatliche Dimension sexueller Belästigung und Vergewaltigung als politisches Mittel, die bei Verhören und in ägyptischen Haftanstalten ihre Anwendung findet.

Im Zuge der Protestwelle 2011 und den darauf folgenden Ereignissen wurde das ganze Ausmaß der sexuellen Belästigung und der Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Raum sichtbar. Das sogenannte Girl in the Blue Bra wurde dabei genauso zum Symbol wie Samira Ibrahim. Letztgenannte machte die an ihr und anderen Demonstrantinnen durchgeführten Jungfräulichkeitstest öffentlich, die vom SCAF (Oberster Rat der Militärstreitkräfte) angeordnet wurden, und stellte Strafanzeige.

Daneben legen die von den NGOs Nazra for Feminist Studies, Al Nadeem und New Women Foundation gemeinsam veröffentlichten Berichte betroffener Frauen nahe, dass es sich bei den zwischen 2011 und 2013 festgehaltenen Massenübergriffen und Vergewaltigungen auf Grund der Ähnlichkeit im Vorgehen der Täter um staatlich organisierte Gewalt handelte. Gleichzeitig decken die darin festgehaltenen Reaktionen der scheinbar unbeteiligten männlichen Augenzeugen ein gesamtgesellschaftliches Problem auf:

„Mit Zeuginnenaussagen, die davon berichten wie hunderte Hände Frauen unaufhörlich vergewaltigten und hundert weiteren Augen, die diese brutalen Angriffe beobachteten, einige davon sogar lächelnd, wird offensichtlich, dass wir es hier mit einer überwältigenden Herausforderung zu tun haben; nämlich mit einem Staat und einer Gesellschaft, die sexuelle Gewalt gegen Frauen als geltendes Recht verinnerlicht haben.“ [3]
…und mögliche Erklärungsansätze

Es gibt viele Theorien, die versuchen sexuelle Belästigung als ein gesellschaftliches Phänomen zu untersuchen, welches im letzten Jahrzehnt vermehrt in Erscheinung getreten ist. Einer Studie der UN aus dem Jahr 2013 zufolge sind 99,3 Prozent der Frauen in Ägypten in irgendeiner Form davon betroffen – sei es auf der Straße, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder aber in der virtuellen Öffentlichkeit. Unterdrückte Sexualität als Folge des steigenden Heiratsalters – ein als Ehekrise bezeichnetes Phänomen – werden dabei als mögliche Gründe genannt. Andere Theorien gehen davon aus, dass die jahrelange Schickanierung von Männern durch die (Moral-)Polizei im öffentlichen Raum zu einem gesellschaftlichen Backlash geführt hat. Männer würden demnach versuchen ihre eingebüßte Männlichkeit durch die (sexualisierte) Machtausübung an Frauen wiederherzustellen.[4] Die Männlichkeitsforschung steckt hierbei allerdings noch in den Kinderschuhen.

Auf der anderen Seite beteiligten sich auch viele Männer an den ins Leben gerufenen Initiativen wie Shoft Ta7rosh oder Tahrir Bodyguards, die in der Folge versuchten Frauen vor sexuellen Übergriffen bei Demonstrationen zu schützen. Ein gesamtgesellschaftlicher Dialog über Geschlechterverhältnisse schien damit angestoßen.

Von guten und bösen Töchtern – Frauen in den Augen der heutigen Regierung

Der heutige Staatschef Aldel Fattah El-Sisi billigte die bereits erwähnten Jungfräulichkeitstests vom März 2013 seiner Zeit. Er stimmte auch der vom SCAF vorgebrachten Argumentation zu, dass sich die betroffenen Frauen nicht wie ideale ägyptische Töchter verhalten hätten, da sie in Zeiten des Protestes gemeinsam mit Männern in Zelten geschlafen hätten. Außerdem hätte sich das Militär vor dem Vorwurf der Vergewaltigung schützen wollen, da nur Jungfrauen – so die bizarre Logik der Militärs – vergewaltigt werden könnten. Die Zustimmung jener Praxis wird El-Sisi auch heute noch von vielen Aktivist_innen feministischer und frauenrechtlicher Kreise übelgenommen. Einige von ihnen sind aktuell vermehrten Repressionen ausgesetzt: So steht die Direktorin der bereits erwähnte NGO Nazra, Mozn Hassan, derzeit aufgrund des umstrittenen NGO-Gesetzes unter Anklage. Dem ebenfalls genannten El-Nadeem Center droht mittlerweile die Schließung. Dabei ist es unter anderem diesen Gruppen zu verdanken, dass sexuelle Belästigung im Juni 2014 als Straftatbestand in das ägyptische Gesetzbuch aufgenommen bzw. ausführlich definiert wurde.

Durch gezielte medienwirksame Auftritte, erhofft sich die vom Militär dominierte Führung des Landes indes weibliche Sympathien für sich zu gewinnen. So besuchte El-Sisi etwa eine Frau im Krankenhaus, die während den Feierlichkeiten zu seiner Einschwörung ins Präsidentenamt im Juni 2014 auf dem Tahrir Platz Opfer eines sexuellen Übergriffes wurde. Sexuelle Belästigung bezeichnete er dabei als „fremd gegenüber den guten Prinzipen der ägyptischen Kultur“ und entschuldigte sich bei allen ägyptischen Frauen. Deren gesellschaftliche Rolle besteht demnach laut der aktuellen, unter dem Militär verabschiedeten Verfassung in der Erziehung der Kinder im Einklang mit einem eventuellen Berufsleben.

Die paternalistische Rhetorik über gute und böse Töchter des Staates, erfuhr im vergangen Jahr von El-Sisi erneute Anwendung, anlässlich der Erschießung Shaimaa El-Sabbagh, Mitglied der „Sozialistischen Volkspartei“. Einige Mitglieder der Partei wollten im Januar 2015 mit einer Kranzniederlegung an die „Märtyrer_innen der Revolution 2011“ erinnern. Die Auflösung der laut geltendem Protestgesetz illegalen Aktion durch Polizeikräfte endete für El-Sabbagh tödlich. In einer Rede an die Nation bezeichnete El-Sisi sie dennoch als „meine Tochter“ und forderte dazu auf, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Der daraufhin verurteilte Polizist ging gegen sein Urteil, mittlerweile erfolgreich, in Berufung. Ein neuer Gerichtstermin steht bislang nicht fest.

Die gesellschaftliche Diskussion um Geschlechterrollen – der Fall Reham Said

Die momentanen Repressionen gegen die (sich für Frauenrechte einsetzende) Zivilgesellschaft sowie die Vereinnahmung von Frauen der politischen Führung mildern jedoch nicht die gesellschaftliche Diskussion um Frauen in der ägyptischen Öffentlichkeit. Ein neuerliches Beispiel dafür war der Wirbel um die umstrittene TV-Moderatorin Reham Said. Die wegen ihrer provokativen Auftritte bekannte Moderatorin, lud im Oktober 2015 eine Frau in ihre Sendung Sabaya al-Kheir ein, die, gefilmt von Überwachungskameras vor einer Kairoer Shopping Mall, von einem Mann auf offener Straße ins Gesicht geschlagen wurde. Statt das Thema Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Raum zu thematisieren, veröffentlichte Said Bilder der betroffenen Frau, die sie im Bikini und mit Alkohol zeigen. Said missbrauchte diese Bilder, um die Frau für die Tat selbst verantwortlich zu machen. Doch angesichts der Veröffentlichung privater Fotos der von Gewalt betroffenen Frau, erzürnte sich in den sozialen Netzwerken ein massenhafter Protest gegen die Moderatorin, der sich etwa in dem Hashtag #موتي_يا_ريهام (stirb Reham) ausdrückte. 15 Sponsoren der Sendung, die einen Monat ausgesetzt wurde, traten daraufhin zurück. Said wurde wegen Verleumdung, Rufmord und Eingriff in die Privatsphäre zu insgesamt anderthalb Jahren Gefängnis und umgerechnet 2 500 € verurteilt, einigte sich aber nach der Berufung des Urteils mit der betroffenen Frau. Dennoch legt dieser Fall nahe, dass die jahrelange Sensibilisierung für Gewalt gegen Frauen in der Öffentlichkeit gesellschaftliche Früchte trägt.

Die Sidewalk Stories Ausstellung – persönliche Erfahrungen von Frauen im öffentlichen Raum Kairos

Dass Frauen untereinander bestimmte Rollenvorstellungen und Schuldzuweisungen für vermeintlich geschlechterspezifisches Fehlverhalten teils selbst reproduzieren, wie im Fall Said, zeigt auch ein Statement einer der Frauen in der Ausstellung „Sidewalk Stories – Women in Cairo’s Public Spaces“: Als ein Mann ein nur für Frauen markiertes Abteil der Metro betrat und sie ihn daraufhin versuchte hinauszujagen, stieß sie auf Ablehnung der umstehenden Frauen:

„Die Frauen schrien mich an und sagten: ‚Er hat nichts gemacht, was ist dein Problem?‘ Damals habe ich verstanden wie ignorant Frauen gegenüber ihren eigenen Rechten und ihrem gesellschaftlichen Wert sind.“
Die Ausstellung entstand ausgehend von zwei gleichnamigen Workshops, die im Mai 2015 in Kairo stattfanden und darauf abzielten einen Raum zu schaffen, in dem sich Frauen aus unterschiedlichen Communities über ihre Erfahrungen im öffentlichen Raum der ägyptischen Hauptstadt austauschen konnten. Sarah Seliman, eine der Teilnehmerinnen, entwickelte daraufhin in Kooperation mit den Organisatorinnen jene Ausstellung, die ab kommender Woche in Berlin und Hamburg zu sehen sein wird. Dabei präsentiert jede Frau vor dem Hintergrund ihres Lieblingsortes in Kairo einen Gegenstand, den sie benutzt oder trägt, um sich in der hektischen Öffentlichkeit sicherer und selbstbewusster zu fühlen.

Eröffnet wird die Ausstellung am 22. Juni in Berlin mit einer Podiumsdiskussion in der Werkstatt der Kulturen. Dabei werden unter der Leitung von Asala Bader und unter dem Motto “More than a Side Story – Women’s Rights, Gender Politics, and the Egyptian State” Dr. Bettina Dennerlein, Dina Wahba, Jannis Grimm sowie Anna-Theresa Bachmann die hier im Artikel angedeuteten Aspekte näher beleuchten. Anschließend wird der Film „Bent Bemeet Bent“ von Sarah Seliman gezeigt.

Ab dem 27. Juni macht „Sidewalk Stories“ auch in Hamburg Station. Dort wird sie an der Universität Hamburg zu sehen sein. Maria Neubert, Serena Tolino und Hoda Saleh, die gegenwärtig zum Thema Männlichkeit in Ägypten forscht, werden bei der Eröffnung unter der Leitung von Dr. Achim Rohde ebenfalls auf aktuelle Handlungsspielräume von Frauen sowie auf Geschlechterverhältnisse in Ägypten eingehen.