Wie ein syrischer Flüchtling erst betrogen wurde – und dann half, den mutmaßlichen Kopf eines Schleuserrings vor Gericht zu bringen
Als alle Träume geplatzt, alle Hoffnungen auf die Weiterreise nach Deutschland dahin waren und auch das Geld ausging, fasste Faiz S. einen Entschluss. Der Syrer ging zur deutschen Botschaft in Kuala Lumpur, Malaysia. Er hatte keinen Termin, aber er ließ sich nicht abwimmeln. Der 51-Jährige redete, er schmeichelte, er brüllte. Bis er eingelassen wurde.
Dann erzählte er den Botschaftsmitarbeitern seine Geschichte. 90 000 Dollar habe er für sich und seine Familie für die Reise nach Deutschland gezahlt. Ein Mann, der sich Hussein O. nenne und aus Essen stamme, habe ihm Visa und Stempel besorgt. Doch am Flughafen von Kuala Lumpur, wohin er von Beirut aus gereist war, habe er nicht ins Flugzeug nach Europa steigen dürfen. Die Visa seien gefälscht gewesen. Jetzt wolle er helfen, jenen Hussein O. und dessen Komplizen zu überführen, die ihn betrogen und um seine Ersparnisse gebracht hätten.
Die Offenbarung vom Oktober 2014 war der Startpunkt einer aufwendigen Ermittlung der Bundespolizei, Inspektion Kriminalitätsbekämpfung in Hamburg. Denn Hussein O. ist für die Polizei kein Unbekannter: Er ist Mitglied eines kurdisch-libanesischen Clans in Deutschland, den die Beamten der organisierten Kriminalität zurechnen.
Ab Mittwoch soll vor dem Landgericht Hildesheim gegen Hussein O. verhandelt werden. Ihm wird gewerbsmäßige Schleusung und Urkundenfälschung zur Last gelegt. Zwölfmal soll er versucht haben, zahlungskräftige Syrer und Libanesen nach Deutschland zu schleusen. Viele wurden entdeckt, wie Faiz S. Der Verteidiger von Hussein O., der Osnabrücker Anwalt Joë Thérond, wollte sich zu Details nicht äußern, kündigte aber an, sein Mandant werde im Prozess umfassend aussagen.
Das Gerichtsverfahren in Hildesheim ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil es der Auftakt einer Reihe von Verfahren ist. Ermittelt wird gegen 16 weitere Männer und Frauen, die beim Menschenschmuggel geholfen haben sollen, alle sollen Angehörige libanesischer Clans sein.
Deren Mitglieder gelten als brutal und gefährlich, einige verdienen ihr Geld mit Rauschgifthandel und im Rotlichtmilieu. Wiederholt berichteten Polizisten davon, bei Einsätzen von Clanmitgliedern bedroht worden zu sein. Als die Bundespolizei am 4. November 2014 mit knapp 600 Beamten zu Razzien in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Baden-Württemberg ausrückte, war sie entsprechend schwer bewaffnet. Auch die Spezialeinheit GSG 9 war dabei.
In Beirut, wohin der Syrer Faiz S. geflohen war, haben die Mitglieder der Familie O. einen besseren Leumund. Ihnen sollen dort Häuser und Hotels in bester Lage gehören. Das beeindruckte auch Faiz S., der in Syrien eine Autowerkstatt mit fünf Filialen besessen hatte, eine Wohnung in Damaskus und Land.
Doch der Wohlstand des Sunniten, Vater von vier Töchtern und zwei Söhnen, ist perdu. Nun sitzt Faiz S. mit seiner Frau und seinen Kindern in einem bescheidenen Wohnzimmer in Süddeutschland, vor sich einen Aktenordner mit Papieren und Fotos, die die Stationen ihrer abenteuerlichen Geschichte dokumentieren.
Faiz S. sagt, in seinem Betrieb habe er auch Fahrzeuge des Assad-Regimes reparieren lassen. Aber nach Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 habe er seine Werkstätten geschlossen. Er habe kein System unterstützen wollen, das die eigenen Landsleute ermorde.
Helfer des Regimes hätten daraufhin die Werkstätten mit Bulldozern dem Erdboden gleich gemacht. Er befürchtete, dass seine Söhne zum Wehrdienst eingezogen oder die Töchter entführt würden. Die Familie beschloss, nach Beirut zu gehen. Doch auch dort wurde das Leben bald schwieriger. Ihre Aufenthaltsgenehmigungen seien abgelaufen. Und eine Flucht übers Mittelmeer schien ihnen zu riskant.
Da habe sein Nachbar in Beirut ihm Visa für Deutschland angeboten. Faiz S. sagt, er habe dem Mann vertraut, weil der aus einer einflussreichen Familie stamme. Die habe vom deutschen Botschafter in Malaysia 200 Visa bekommen. 10 000 Dollar solle die Reise nach Deutschland pro Person kosten, abzüglich 1000 Dollar Freundschaftsrabatt.
Faiz S. verkaufte seine Wohnung in Damaskus. Er bekam nur einen Bruchteil des tatsächlichen Werts, aber genug, um 90 000 Dollar für Visa aufzubringen, für sich selbst, seine Ehefrau, die sechs Kinder sowie für ein verwandtes Geschwisterpaar. 35 000 Dollar zahlte er an, gegen Quittung.
Dann lernte er Hussein O. kennen, den Mann, der alles möglich machen sollte. O. besorgte die Flugtickets, von Beirut über Sanaa im Jemen nach Jakarta in Indonesien und von da aus nach Kuala Lumpur. Dort sollten S. und seine Angehörigen die Visa erhalten und weiter nach Europa fliegen.
In Hotels in Kuala Lumpur wartete die Familie, tagelang. Schließlich sei Hussein O., so berichtet Faiz S., mit zwei angeblichen Mitarbeitern der deutschen Botschaft in ihr Hotel gekommen. Diese hätten Visa in die syrischen Pässe geklebt und gestempelt. Er habe O. weitere 35 000 Dollar gegeben und dafür Voucher für Flugtickets nach Paris bekommen. Von dort sollten die Syrer mit dem Auto nach Deutschland gebracht werden.
Doch als die Familie das erste Mal zum Flughafen fuhr, waren keine Tickets hinterlegt. Womöglich schöpften die Behörden da bereits Verdacht. Denn als Faiz S. mit seiner Familie zum zweiten Mal am Flughafen eintraf, eröffnete ihnen dort ein Verbindungsbeamter der deutschen Bundespolizei, dass die Visa Fälschungen seien.
“Damit wir ins Hotel zurückfahren konnten, gab meine Frau dem Taxifahrer ihren Ehering”, erinnert sich Faiz S. – 100 Dollar waren alles, was sie noch besaßen.
Hussein O. ließ die Familie am Telefon abwimmeln. Als Faiz S. klar wurde, dass er betrogen worden war, machte er sich auf den Weg zur Botschaft.
Dort traf er den Beamten vom Flughafen, der ihm die Ausreise verweigert hatte und der ihm nun genau zuhörte. Faiz S. hatte alle Dokumente und Quittungen gesammelt, er konnte präzise Aussagen machen. Der Beamte begriff, dass dieser Mann aus Syrien ein Zeuge sein konnte, auf den Ermittler lange gewartet hatten. Denn die Bundespolizei hatte Mitglieder der Familie O. bereits im Verdacht, Schleusungen zu organisieren. Der Verbindungsbeamte hielt Rücksprache mit den Behörden in Deutschland, dort begannen die Ermittlungen.
Mehr als ein halbes Jahr später, im Mai 2015, kam der Bundespolizist auf die Rinderfarm in Malaysia, auf der die Familie inzwischen arbeitete. Er überreichte Flugtickets in die Bundesrepublik und Visa, zeitlich befristet, aber echt.
So kam die Familie doch ans Ziel ihrer Träume – vorerst, damit Faiz S. im Prozess aussagen kann.
Am Flughafen eröffnete ihnen ein deutscher Beamter, dass die Visa Fälschungen seien.