Flüchtlinge sagen, die Planen aus gebrauchten Werbeplakaten seien dicker und wetterfester als die regulären Zeltplanen, die das Uno-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) zur Verfügung stelle. Manchmal reichen die Planen des UNHCR nicht aus, weil sie Standardgrössen haben und die Familien innerhalb ihrer Zelte verschiedene Räume voneinander trennen wollen. Die Flüchtlinge bezahlen nach eigenen Angaben bis zu 200 Franken für die Werbeplakate. Wer welches Motiv erhält, ist Zufall. Es gibt Zelte mit Autowerbung, Filmplakaten oder mit Fotos von Kandidaten der Lokalwahlen. Ein Händler in der Nähe, der Planen verkauft, behauptet treuherzig, er verlange nie Geld von Flüchtlingen. Ein anderer, der weniger misstrauisch ist, bestätigt, dass die Syrer bei ihm Planen einkauften.
60 Rappen Stundenlohn
Die syrischen Flüchtlinge – je nach Berechnung machen sie 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung Libanons aus – sind einerseits eine enorme Belastung für das Land. Die ohnehin mangelhafte Strom- und Wasserversorgung wurde mancherorts noch knapper, der Wohnungsmarkt geriet unter Druck, in den Schulen wurde es eng. Das Verhältnis zu den syrischen Nachbarn ist zwar ein vertrautes, aber historisch bedingt wegen der langjährigen syrischen Besetzung Libanons auch ein belastetes. Dass die Spannungen im chronisch instabilen Libanon trotz dem riesigen Anteil an Flüchtlingen bis jetzt nicht eskaliert sind, grenzt an ein Wunder. Andererseits gibt es Profiteure, die den Flüchtlingen überteuerte Mietpreise abnehmen, sie als billige Arbeitskräfte ausbeuten und ihnen gebrauchte Werbeplakate verkaufen.
Najah arbeitet wie viele Flüchtlinge als Taglöhnerin auf den Feldern. Sie bekommt dafür umgerechnet etwa 60 Rappen pro Stunde oder 3 Franken 60 pro Tag. Zum Vergleich: Eine Putzfrau in Libanon verdient etwa 6 Franken pro Stunde. Syrische Männer erhalten als Taglöhner je nach Arbeit etwa 13 Franken pro Tag – wenn es denn Arbeit gibt. Auf ihren Mann angesprochen, sagt Najah zunächst knapp, sie habe keinen. Dann, im Lauf des Gespräches, bricht es plötzlich aus ihr heraus – ihr Mann sei verschwunden. Er sei nach Europa aufgebrochen. Von dort wollte er die Familie nachziehen lassen. Seither hat Najah nichts mehr von ihm gehört. Den Kindern sagt sie, er sei im Spital weit weg, doch die Älteren beginnen zu verstehen. Najah kommen die Tränen: «Vielleicht ist er im Mittelmeer ertrunken?»
Es sei wie eine Lotterie, man kaufe die Planen und sehe dann, was drauf sei, sagt eine Bewohnerin.
Ihre vierjährigen Zwillinge erinnern sich nicht an die Heimat und kaum an den Vater. So provisorisch die Zeltlager wirken, die meisten ihrer Bewohner sind schon seit vier bis fünf Jahren hier und haben keine Aussicht, bald ein richtiges Dach über dem Kopf zu haben. So reiht sich hier Zelt an Zelt, alle voll von traurigen Geschichten. Es sind jene Syrer, die sich keine Wohnung in Libanon leisten können und die keine Möglichkeit hatten, an einen besseren Ort zu fliehen. Manche, die am Anfang noch Geld für eine Wohnungsmiete aufbringen konnten, mussten später in ein Zeltlager oder in eine andere improvisierte Unterkunft umziehen. Glücklich ist, wessen Familienmitglieder noch alle am Leben sind.
Sofas und Tapeten im Innern
So sehr sich alle Flüchtlinge danach sehnen, nach Hause zurückzukehren, sie versuchen auch, sich vor Ort besser einzurichten. Zelte werden ausgebaut. Wer es sich leisten kann, giesst den Boden mit Beton aus und verstärkt sein Zelt. Andere müssen sich mit dem Erdboden begnügen und klagen über Löcher in ihren Zelten. Aminas Familie aus der Region Idlib gehört zu den «Privilegierten». Sie besass in Syrien Land und Vieh und hatte im ersten Jahr der Flucht noch Geld auf der Seite. Damit und mit Spenden hat sie ihr Zelt eingerichtet, das aus vier Zimmern besteht. Sie hat sogar eine Waschmaschine. Das «Wohnzimmer» ist mit Sofas ausgestattet, und im Inneren der Zeltwände hängen violette Tapeten. Aber jetzt sagt Amina, ihr gehe das Geld aus und ihr Mann verdiene als Taglöhner nicht genug. Er finde nur für vier Monate pro Jahr Arbeit. Und weil sie anfänglich Geld gehabt hätten, seien sie beim UNHCR immer noch als nicht bedürftig eingestuft. Amina schimpft über die schwerfällige Bürokratie der Uno und über unkooperatives Personal. Dieses ist allerdings überlastet und unterfinanziert.
Auf die Werbeplakate angesprochen, lacht Amina. Es sei ein bisschen wie eine Lotterie, man kaufe die Planen und entdecke dann, was drauf sei. Ihre Nachbarin, die dem Gespräch zuhört, will wissen, was das Wort «Lifetime» auf ihrem Zelt bedeute. Es ist Teil einer Werbung für das Leben in einer Gated Community, die anderen Worte sind nicht vollständig lesbar. Sie lacht, als sie die Übersetzung hört, immerhin bedeute es etwas Gutes. Über ihre Zeltwand zieht sich die Luftaufnahme einer jener neuen Wohnsiedlungen, die das Leben in Vororte und Retortenstädte verlegen: hübsche neue Häuserreihen, tadellose Infrastruktur, viel Grün und ein Swimmingpool, gut abgeschirmt von der turbulenten Aussenwelt. Davon können die Bewohner der Zelte nur träumen.
Ein Gärtchen vor dem Zelt
Amina bezahlt für die Miete des Grundes, auf dem ihr Zelt steht, umgerechnet 800 Franken pro Jahr. Wer nicht bezahlen kann, arbeitet gratis auf den Feldern, auch Kinder. Eine Familie, die wir beim Salaternten treffen, erzählt uns, dass sie rund 650 Franken Miete pro Jahr bezahle und zusätzlich für ein Trinkgeld die Ernte einbringe. Auf den Feldern arbeiten auch Kinder, unter ihnen ist die 13-jährige Dima, ein aufgewecktes Mädchen aus Kabun, einem Vorort von Damaskus. Das Haus ihrer Familie sei zerstört worden, sagt sie. Immerhin habe sie die Primarschule abgeschlossen. Sie wolle Journalistin werden, wenn sie gross sei. Worüber sie berichten möchte, weiss sie noch nicht so genau.
Dima gehört zu einer glücklichen Minderheit hier, ihre Familie hat grünes Licht für ihren Antrag erhalten, nach Kanada auszuwandern. Einstweilen muss Dima noch Salat pflücken. «Wir unterhalten uns dabei. Es ist nicht so schlimm», meint sie unbekümmert. Vor dem Zelt ihrer Familie sind fein säuberlich Gartenpflanzen und Blumen in zu Töpfen umfunktionierten Blechdosen aufgereiht – ein bisschen Wohnlichkeit inmitten von Armut und Elend.
Informell, temporär, permanent
bol. ⋅ Mehr als eine Million syrische Flüchtlinge leben offiziell in Libanon – mit den nicht registrierten Syrern dürfte die Zahl der Geflüchteten bei rund 1,5 Millionen liegen. Mehr als 350 000 dieser Menschen wohnen in der Bekaa-Ebene und von diesen etwa 140 000 bis 150 000 in informellen Camps. Die anderen leben in Mietwohnungen oder in improvisierten Einrichtungen wie unfertigen Bauten, Garagen, Warenhäusern. Laut Tatiana Audi von der lokalen Vertretung des Uno-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) sind die meisten Flüchtlinge schon seit vier bis fünf Jahren hier.
Wegen der belasteten Geschichte der Flüchtlingslager in Libanon im Zusammenhang mit der Rolle der Palästinenser im libanesischen Bürgerkrieg will die Regierung hier keine formellen Lager. Die informellen Camps sind kleiner und weniger gut organisiert. Während in anderen Flüchtlingslagern eine Art städtische soziale Struktur mit einer eigenen kleinen Wirtschaft entsteht, haben jene in Libanon wenig Möglichkeiten, sich zu entwickeln. Hier sind die Flüchtlinge von den Landbesitzern oder von Vermietern abhängig. Die Uno stellt ihnen Holz und Planen für Zelte zur Verfügung, hilft mit Infrastruktur wie Wasser und sanitären Anlagen und unterstützt die Bedürftigsten mit Bargeld. Für den Winter werden die Zelte verstärkt. Bei dringenden medizinischen Behandlungen erhalten die Flüchtlinge 75 Prozent der Kosten bezahlt. Die Ausgaben für nicht als dringend eingestufte Behandlungen und chronische Krankheiten werden aus Geldmangel nicht übernommen.
Das UNHCR hat nach einem Spendenaufruf von 1,8 Milliarden Dollar für 2016 erst 519 Millionen Dollar erhalten. Letztes Jahr musste das Welternährungsprogramm die Nahrungsmittelhilfe wegen fehlender Mittel auf die Hälfte reduzieren, was mit ein Grund für die Flüchtlingsströme Richtung Europa war. Mit dem Andauern des Krieges gehen den Flüchtlingen die Ressourcen aus. Laut Statistiken des UNHCR leben über 70 Prozent der syrischen Flüchtlinge Libanons unter der Armutsgrenze, welche bei 3 Franken 75 pro Person und Tag liegt. 2014 waren es noch 50 Prozent. Die meisten Flüchtlinge sind verschuldet. Immer mehr schicken ihre Kinder zur Arbeit statt zur Schule, weil diesen die Kapazitäten fehlen – und viele Familien anders gar nicht über die Runden kommen.