09009Die meisten Libanesen Nordrhein-Westfalens leben in Essen. Viele von ihnen werden von der Stadt bis heute nur geduldet. Ihr Schicksal zeigt die Folgen einer verfehlten Integrationspolitik.
Auf den ersten Blick könnte man Mazein Nouhi für einen Erfolgsmann halten, der auf seine bescheidenen Anfänge verweist. An einem Frühjahrsnachmittag sitzt er auf dem Sofa seiner Mutter, in schwarzer Anzughose, hellem Hemd, mit akkurat getrimmtem Bart und gestylten Haaren.
Mazein Nouhi ist gelernter Schweißer und hat die meiste Zeit seines Lebens im Ruhrgebiet verbracht, in Altenessen, einem Problemstadtteil von Essen. Er spricht fließend Deutsch, und er liebt seine deutsche Frau. Der 38-Jährige sieht aus wie ein Musterbild gelungener Integration. “Ich bin ein Essener Junge”, sagt er über sich selbst.
Aber Nouhi hat sich für den Gesprächstermin herausgeputzt. Und die Geschichte, die er zu erzählen hat, ist das Gegenteil von gelungener Integration.
Nouhi würde gern arbeiten, Steuern und Sozialabgaben bezahlen und leben wie viele andere Essener auch. Aber sein Aufenthaltsstatus in Deutschland nennt sich “geduldet”. Obwohl er schon Jahrzehnte in Deutschland lebt, muss er alle drei Monate zum Ausländeramt, um seine Duldung zu verlängern. Einen Job bekommt er so nicht. Vom Sozialamt erhält er 360 Euro im Monat. “Damit komme ich nicht aus”, sagt Nouhi.
In den vergangenen Monaten sind viele Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien nach Nordrhein-Westfalen gekommen. Sie suchen eine Wohnung, Arbeit, eine sichere Zukunft. Die Städte stehen vor einer gewaltigen Integrationsaufgabe – auch Essen.
Und so ähnlich hat es ausgerechnet Essen schon einmal erlebt, in den Achtzigerjahren. Auch damals flohen Menschen vor einem Bürgerkrieg in die Bundesrepublik, nicht aus Syrien, sondern aus dem Libanon. Essen entwickelte sich bald bundesweit zu einem der wichtigsten Zentren für Flüchtlinge aus dem Libanon, neben Westberlin und Bremen.
Heute wie damals stellt sich die Frage, was mit den Flüchtlingen passieren soll. Die Migranten richten sich dauerhaft auf ein neues Leben in Deutschland ein, viele Einheimische betrachten sie als Gäste auf Zeit.
Das Schicksal von Mazein Nouhi und anderen libanesischstämmigen Essenern kann deshalb als kleines Lehrstück dienen. Es zeigt, wie eine verfehlte Integrationspolitik Startchancen verbauen – und eine Stadtgesellschaft auf Jahrzehnte belasten kann.
Wenn Libanesen in Essen in der Zeitung auftauchen, geht es meistens um Massenschlägereien und Krawalle unter rivalisierenden Familienclans. Die Statistik bestätigt diesen Eindruck: Die Kriminalitätsrate unter den rund 5000 libanesischstämmigen Bürgern ist hoch und reicht von Kleinstdelikten bis zur organisierten Kriminalität, die Armutsquote ist überdurchschnittlich, der Bildungsstand niedrig.
Die Ursachen liegen in der Historie. Es ist eine etwas komplizierte Geschichte, aber sie gehört zu Mazein Nouhi und jenen seiner Landsleute, die zum arabisch sprechenden Volk der Mhallami gehören. Ihre Vorfahren siedelten in einem Gebiet, das nach dem Ersten Weltkrieg der Türkei zugeschlagen wurde – ein Vorgang, der die Behörden in Essen bis heute beschäftigt.
Viele der Mhallami flüchteten in zwei Wellen aus der Türkei in den Libanon: in den Zwanzigerjahren und noch einmal in den Vierzigern. Manche brachten das Geld auf, sich im Libanon einbürgern zu lassen, andere nicht. Es spielte damals keine große Rolle.
Jahrzehnte später flohen ihre Nachkommen erneut. Dieses Mal vor den Gräueltaten des Bürgerkriegs im Libanon, dieses Mal nach Deutschland. 1985 kam Nouhi als achtjähriger Junge mit seinen Eltern in Essen an.
Diese erste Generation der Mhallami tat sich in Deutschland schwer. Sie wurden nur geduldet, ohne legale Erwerbstätigkeit verharrten sie in ihren Familienstrukturen und lebten in prekären Verhältnissen. Viele von ihnen entdeckten die Illegalität als Erwerbsquelle: Schwarzarbeit, Diebstahl, Hehlerei, Drogenhandel.
Ihre Nachkommen aber kamen als Kinder und Jugendliche in die Bundesrepublik oder wurden dort geboren. Sie hatten wenig mit dem Libanon zu tun. Aber sie sollten auch nicht vollständig Teil ihres neuen Heimatlandes werden. Das hatte damit zu tun, dass sich in vielen Fällen ihre Familien in einer Parallelgesellschaft eingerichtet hatten und wenig dafür taten, ihre Kinder in Essen zu integrieren.
Es lag aber auch an den Behörden der Stadt. Sie wollten die ungeliebten Migranten aus dem Libanon, die meist ohne Pässe eingereist waren, wieder loswerden und kamen auf die Idee, dass die Mhallami keine Libanesen seien, sondern Türken. Ihr Kalkül: In die Türkei könne man die geduldeten Mhallami womöglich leichter abschieben.
Beamte des Ausländeramts erstellten deshalb umfangreiche Stammbaumanalysen. Sie sammelten ihre Informationen über alte Einwohnermelderegister aus der Türkei. Bei Durchsuchungen wurden Videos beschlagnahmt, um zu sehen, wer wohl mit wem verwandt sei. Sie befragten die rivalisierenden Clans zu den Mitgliedern der anderen Familien.
2000 sprach der damalige Ordnungsdezernent Ludger Hinsen von einem “riesigen Asylbetrug” in Essen. Dieser müsse nun aufgedeckt werden.
Für die jüngeren Mhallami hatte das Konsequenzen: Bei Klassenfahrten ins Ausland oder in andere Bundesländer blieben die meisten aufgrund des Duldungsstatus zu Hause. Wegen “ungeklärter Identität” blieb etlichen der Führerschein und die standesamtliche Hochzeit verwehrt.
Viele fühlten sich ausgegrenzt, viele schlugen einen Weg ein, auf dem alles nur noch schlimmer wurde. So war es auch bei Mazein Nouhi. Ende der Neunziger wurde er beim Drogendealen erwischt, er erhielt eine Jugendstrafe, sein Aufenthaltstitel erlosch. Er wurde fortan mangels Abschiebemöglichkeit in der Bundesrepublik nur noch geduldet. Im Jahr 2000 wurde er wegen Fahrens ohne Führerschein verurteilt.
2001 bekam er eine Arbeitserlaubnis und fand einen Job als Maschinenführer bei einem Entsorgungsunternehmen. Er schaffte es bis zum Vorarbeiter, darauf ist er noch heute stolz. “Mein Chef war zufrieden mit mir. Er wollte, dass ich bleibe”, sagt Nouhi.
Aber nach sechs Monaten lief seine Arbeitserlaubnis aus. Nouhi fälschte daraufhin das Datum auf seiner abgelaufenen Bescheinigung und legte sie bei seinem Arbeitgeber vor. Er flog auf und wurde wegen Urkundenfälschung verurteilt. 2005 kassierte er eine Geldstrafe wegen Hehlerei, 2007 eine Bewährungsstrafe wegen Körperverletzung.
Das deutsche Strafrecht setzt auf den Gedanken der Resozialisierung. Täter sollen eine neue Chance bekommen, wenn sie ihre Strafe verbüßt haben. Doch Nouhi fühlt sich manchmal, trotz aller eigenen Fehler, doppelt bestraft. 18 Jahre nachdem er 1998 als Jugendlicher seinen Aufenthaltstitel verlor, kämpft er nun wieder um seine Aufenthaltsgenehmigung.
Die Ausländerbehörde von Essen wirft ihm vor, nicht genügend zur Klärung seiner Identität beizutragen. Seit 1985 lebt Nouhi in Essen, immer noch geht es darum, ob er Türke oder Libanese ist. Nouhi will jetzt vor Gericht ziehen, um endlich eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen.
Ahmad Omeirat kennt solche Fälle zur Genüge. Auch seine Vorfahren gehörten zu den Mhallami – mit dem Unterschied, dass seine Vorfahren einst im Libanon libanesische Papiere erhielten. So ist Omeirat inzwischen Deutscher, für die Grünen hat er es in den Stadtrat von Essen geschafft. Nun setzt er sich dort für die Sache der Libanesen ein.
“Natürlich wird da mit zweierlei Maß gemessen”, sagt Omeirat. So sei ein Aufenthaltstitel in anderen Städten viel leichter zu bekommen als in Essen. “Und auch hier kommt es auf den Sachbearbeiter an”, sagt er. In der libanesischen Gemeinde hat sich das rumgesprochen, insbesondere eine Mitarbeiterin der Ausländerbehörde ist dort verrufen. “Sogar achtjährige Kinder kennen ihren Namen”, sagt Omeirat. Und wenn ein Libanese einem anderen scherzhaft Böses wünscht, so erzählen es viele, dann sagt er: “Möge Gott dir diese Frau schicken.”
Die Verantwortlichen der Stadt wollen von einer besonderen Härte gegenüber den Mhallami nichts wissen. “Wir wenden geltendes Recht an”, sagt Ordnungsdezernent Christian Kromberg.
Aber er weiß auch, dass die rund tausend Mhallami, die derzeit in Essen unter Duldungsstatus leben, Deutschland wohl kaum wieder verlassen werden. “Das Recht, da muss man sich keinen Illusionen hingeben, steht hier im Widerspruch zur Realität”, sagt er.
In einem Modellprojekt soll nun jungen Geduldeten, die höchstens 27 Jahre alt sind, der Weg zur Aufenthaltsgenehmigung und letztlich zur deutschen Staatsbürgerschaft erleichtert werden.
Es ist der Versuch, bei der dritten Generation der Libanesen den Integrationswillen zu stärken. Man verspreche sich dadurch eine positive Wirkung, heißt es in dem Konzeptpapier: Wer sich Mühe gibt und straffrei ist, hat etwas davon.
Dahinter jedoch verbirgt sich noch eine zweite, nicht ausgesprochene Aussage. Sie lautet, dass die Stadt Essen den Mhallami durchaus eine Aufenthaltsgenehmigung erteilen kann. Sie muss es nur wollen.