Kriegsgedächtnis…
Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges stand der Libanon unter türkischer Verwaltung. Im Friedensvertrag von Sèvres vom Sommer 1920 wurde die gesamte Region des Nahen Ostens zwischen Grossbritannien und Frankreich aufgeteilt. Dabei erhielt Frankreich den heutigen Libanon und das Gebiet des heutigen Syriens als Mandat.
Als schwer zugängliches Zufluchtsgebiet verschiedener religiöser Minderheiten hatte das Libanongebirge allerdings schon seit Jahrhunderten unter der Herrschaft der Osmanen einen halbautonomen Sonderstatus genossen. Die Franzosen und andere europäische Mächte hatten diesen weiter ausgebaut, als sie 1861 dem Osmanischen Reich die Errichtung einer autonomen Provinz diktierten, in der die europäischen Konsuln mitregierten. Die Franzosen traten als Schutzmacht der libanesischen Christen auf und schufen sich gleichzeitig einen Stützpunkt in der Region. 1920 fügten die Franzosen dem weitere Gebiete hinzu und gründeten den modernen Staat Libanon.
Nach der Unabhängigkeit ab 1943 erlebte der Libanon drei Jahrzehnte lang einen raschen wirtschaftlichen Aufschwung, während Syrien, geschwächt durch drei Kriege mit Israel und den Folgen seiner Verstaatlichungspolitik, wirtschaftlich stagnierte. Das libanesische System des ungezügelten Kapitalismus, gepaart mit grosser politischer Liberalität und günstiger geographischer Lage, machte Beirut zum Banken- und Handelszentrum des Nahen Ostens, das Fluchtkapital aus vielen arabischen Ländern an sich zog. In den frühen siebziger Jahren beschäftigte der Libanon sogar eine halbe Million syrischer Gastarbeiter.
Die sozialen und politischen Spannungen liessen sich seit Ende der sechziger Jahre nicht mehr in friedliche Bahnen lenken. Die libanesische Proporzdemokratie mit festgeschriebenem politischem Übergewicht und zahlreichen Schlüsselpositionen für die Christen wurde von den Muslimen zusehends abgelehnt, zumal sich die demographischen Verhältnisse zu ihren Gunsten verschoben.
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Die muslimischen Milizen wurden in den letzten Jahren zusehends von gegenseitigen Konflikten geplagt, die sie noch tiefer in die Abhängigkeit von Syrien getrieben haben. Der Amal-Miliz, die 1984 die Kontrolle über den grössten Teil Westbeiruts und 1985 auch Südlibanons übernommen hatte, erwuchs mit der von Iran finanzierten Hizbullah (‘Partei Gottes’) eine mächtige Konkurrenz im schiitischen Milieu selbst, und sie entfremdete sich auch zusehends von ihrem Hauptverbündeten 1983/84, der drusischen PSP. Nach tagelangen heftigen Strassenkämpfen zwischen Amal und PSP in Westbeirut im Februar 1987 riefen die muslimischen Politiker die syrische Armee als ‘Ordnungsmacht’ nach Westbeirut zurück, ohne sich um Proteste der Christen gegen diesen Schritt viel zu kümmern. Mit 8000 Mann und schweren Waffen richteten sich die Syrer ein. Im Mai 1988 sahen sie jedoch wochenlang zu, wie sich die schiitischen Rivalen Amal und Hizbullah gegenseitig zerfleischten, bis sie als lachender Dritter auch in die umkämpften Vororte Westbeiruts einrücken konnten.
Als im Sommer 1988 die Amtszeit Amin Gemayels auslief, überliessen es die muslimischen Politiker fast ganz den Syrern, an ihrer Stelle mit den Christen über die Wahl eines neuen Präsidenten zu verhandeln. Berri und andere wollten eine grundlegende Änderung des Systems zur Vorbedingung für die nochmalige Wahl eines christlichen Präsidenten durch das libanesische Parlament machen, mussten diesen Plan aber aufgeben, als die Syrer ihren treuesten christlichen Vasallen, den greisen Franjieh, als Kandidaten ins Feld führten. Die Wahl scheiterte am Boykott der christlichen Abgeordneten, ebenso wie die eines prosyrischen Ersatzkandidaten.
Amin Gemayel ernannte (gemäss der libanesischen Verfassung) buchstäblich in der letzten Viertelstunde seiner Amtszeit den christlichen Armeechef Aoun zum Chef einer Interimsregierung aus Offizieren. Erwartungsgemäss verweigerten muslimische Offiziere die Mitarbeit, und alle prosyrischen Kräfte erkannten weiterhin nur die verbliebenen Minister der seit langem paralysierten ‘Regierung der nationalen Einheit’ unter Salim al Huss als legitime Regierung an.
Die schlagkräftigsten Truppenteile der legalen libanesischen Armee, wie auch der Löwenanteil der militärischen Infrastruktur, waren in der christlichen Enklave konzentriert und blieben gegenüber Aoun loyal. Zu diesen sechs Brigaden mit 15’000 Mann gehörten auch etwa 20 Prozent Muslime, vor allem Sunniten aus dem Norden, die heute zumeist antisyrisch eingestellt sind. Die christliche Miliz der ‘Forces Libanaises’ mit 4000 bis 6000 Mann Vollzeit-Bewaffneten erklärte sich gleichfalls solidarisch mit General Aoun. Anders als sein Vorgänger Amin Gemayel, liess er sich von Anfang an nicht auf Kompromisse mit den Ansprüchen Syriens auf politische Mitsprache ein und erklärte sogar die Rumpf-Regierung al- Huss für illegal und ihre Beschlüsse für null und nichtig. Seine erste militärische Aktion richtete sich im Februar 1989 jedoch gegen die christliche Miliz im eigenen Haus. Die ‘Forces Libanaises’ lenkten schon nach einem Tag unentschiedener Kraftproben mit der Armee ein. So gestärkt, verlangte Aoun auch die Schliessung der von den muslimischen Milizen und den Syrern kontrollierten Häfen und organisierte mit seiner winzigen Marine und Luftwaffe sogar eine Seeblockade der Häfen südlich von Beirut. Seine Gegner drehten jedoch den Spiess um und bombardierten zusammen mit der syrischen Armee die christlichen Häfen. Daraufhin stürzte sich Aoun im März 1989 in sein Abenteuer der Ausrufung eines ‘Befreiungskrieges gegen die syrische Besatzung’.
Aoun hoffte mit seinem propagandistischen Frontalangriff gegen Syrien, das libanesische Problem wieder in das Bewusstsein der internationalen Öffentlichkeit zu bringen und dort Unterstützung zu gewinnen, aber auch die schweigende Mehrheit der Muslime, auf seine Seite zu ziehen. Beides war ihm nur begrenzt gelungen. Am augenfälligsten war sein Misserfolg bei den Vereinigten Staaten, die im Gegensatz zu ihrer Haltung von 1982/83 dazu neigten, den Libanon den Syrern als Einflusszone zu überlassen, um dadurch Syriens Kompromissbereitschaft im Konflikt mit Israel zu erkaufen. Als einzige westliche Macht hat Frankreich wiederholt gegen Syrien Stellung genommen, und die Entsendung seiner Flotte hat die Syrer vor einem zu drastischen Vorgehen abgeschreckt. Unterstützt wurde Aouns Kampagne ebenfalls durch das irakische Regime.
Für die weitere Entwicklung im Libanon hat das Abkommen von Taëf (Saudiarabien) tiefgreifende Folgen. Am 30. September 1989 versammelten sich 63 Parlamentsmitglieder (von total 73). Ihre letzte Wahl hatte 1972 stattgefunden. Die Abgeordneten (deren Verfassungsmässigkeit auf schwachen Füssen stand) berieten über die libanesische Verfassung. Im Abkommen vom 23. Oktober 1989 wurde die syrische Besatzung gutgeheissen und die Vereinigung des Libanons mit Syrien vorweggenommen. Michel Aoun wies das Abkommen als Verrat zurück. Am 1. November 1989 forderten die fünf Mitglieder des Sicherheitsrates (UNO) die Libanesen auf, das Abkommen von Taëf zu akzeptieren und einen Präsidenten zu wählen. (Der gleiche Sicherheitsrat hatte in drei Resolutionen den Rückzug der syrischen Armee gefordert).
Am 2. November 1989 wurde Ren‚ Moawad als Präsident gewählt, allerdings bereits nach 20 Tagen ermordet. (Er bestand auf den Rückzug der syrischen Armee). Am 24. November wurden die Abgeordneten in Staura (Libanon), im Hauptquartier der syrischen Armee, versammelt. Sie wählten Elias Hraoui, ein Befürworter des Abkommens von Taëf, zum neuen Präsidenten. Auch die USA stellten sich hinter das Abkommen von Taëf und forderte am 20. August 1990 seine unverzügliche Anwendung. Am folgenden Tag approbierte die libanesische Nationalversammlung das Abkommen. Dies war die bedeutenste Verfassungsänderung seit 1943. Im Zusammenhang mit den Vorbereitungen des Golfkrieges, in dem Syrien zu den USA hielt, gab die USA Syrien freie Hand gegen General Aoun, ein entschiedener Gegner des Abkommens von Taëf. Am 13. Oktober 1990 griff die syrische Luftwaffe, das von Michel Aoun verteidigte Gebiet an. Nach blutigen Kämpfen ordnete er seine Truppen an, das Feuer einzustellen. Er fand Aufnahme in der französischen Botschaft in Beirut, wo später die Ausreise nach Frankreich ausgehandelt wurde.