Die Briten haben entschieden. Eine knappe Mehrheit will raus aus der Union.
Die Entscheidung hat historische Tragweite. Noch nie hat ein Land die EU verlassen.
Auf die EU, Großbritannien und auch Deutschland kommen schwere Zeiten zu.
Analyse von Thorsten Denkler, London
Es ist also tatsächlich geschehen: Großbritannien wird die Europäische Union verlassen. Das haben die Briten an diesem Donnerstag entschieden. Der 23. Juni 2016 ist ein historisches Datum. Erstmals in der Geschichte der europäischen Einigung dreht ein Mitgliedsland dem Rest der EU den Rücken zu. Mit weitreichenden Folgen für die britische, die europäische, die deutsche Politik. Und für die Wirtschaft. Nur zwei Jahre bleiben den Briten jetzt, um den Ausstieg vorzubereiten. Ende Juni 2018 wird Großbritannien dann die EU verlassen. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht.
1. In der Europäischen Union wird es ungemütlich
Für die EU läutet der Brexit eine schwere Phase ein, vielleicht die schwerste ihrer Geschichte. In Polen, Ungarn und Tschechien sitzen die EU-Skeptiker schon in den Startlöchern. Sie fordern auch in ihren Ländern ein Referendum über die Mitgliedschaft. Es gibt Umfragemehrheiten in fast allen EU-Staaten für solche Referenden. Der Brexit könnte einen Dominoeffekt auslösen, der am Ende zum Zusammenbruch der bisherigen EU führt. Das wäre der endgültige Sieg der EU-Gegner. Auch deshalb wird Brüssel den Briten den Brexit so schwer wie möglich machen, um Nachahmer abzuschrecken.
Im Brexit könnte aber auch eine Chance für die EU liegen, ohne den Bremsklotz Großbritannien den Weg zu einer immer engeren Zusammenarbeit weiterzugehen. Wenn die politischen Anführer den Wink verstehen und die EU-Institutionen transparenter und demokratischer machen. Wenn die EU-Bürger am Ende über eine europäische Regierung bestimmen und die Herrschaft der EU-Kommission und des Rates der Regierungschefs beendet wird, dann hat der Brexit doch noch etwas Gutes gehabt.
2. Großbritannien steht vor einem politischem Neuanfang
Premierminister David Cameron muss jetzt mit der Bürde leben, den Populisten im Land erlaubt zu haben, das ganz große Rad zu drehen. Seine historische Niederlage in diesem bizarren Wahlkampf ist ein Sieg vor allem für den Chef der EU-feindlichen Ukip, Nigel Farage, der Cameron in dieses Referendum genötigt hat. Er wird jetzt von den Anti-EU-Populisten in Europa als Held gefeiert werden.
Cameron wird nicht mehr lange im Amt bleiben, das kündigte er bereits an. Sein ganzes, in dieser Frage tief zerstrittenes Kabinett, müsste zurücktreten. Neuwahlen wären der beste Weg, um die Regierungskrise in Großbritannien zu beenden. Auch um herauszufinden, wer eigentlich Großbritannien in den schweren Verhandlungen mit der EU um die Modalitäten für den Austritt vertreten soll. Die klare Mehrheit im Unterhaus, in jeder Fraktion, war im Wahlkampf für einen Verbleib in der EU.
3. Migration bleibt auch für Großbritannien ein Thema
Einwanderung war das wichtigste Thema im Brexit-Wahlkampf. Die EU-Gegner haben versprochen, sich die Kontrolle über die britischen Grenzen zurückzuholen.
Das Problem ist: Die EU wird einen Zugang zum gemeinsamen Markt nur dann erlauben, wenn Großbritannien die Grundprinzipien des Marktes anerkennt. Dazu gehört zwingend die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die mussten auch Norwegen oder die Schweiz akzeptieren. Zwei Länder, die die britischen Brexit-Befürworter gerne als Positiv-Beispiele genannt haben. Grenzen dicht – daraus wird wohl nichts.
4. Die Wirtschaft wird leiden
Das Vereinigte Königreich ist als fünftgrößte Ökonomie der Erde zwar wichtig für die EU. Noch wichtiger aber ist für Großbritannien der uneingeschränkte Zugang zum EU-Binnenmarkt, in den es fast die Hälfte seiner Exportgüter schickt.
Unwahrscheinlich, dass in zwei Jahren ein Vertragstext steht, für den etwa die Schweiz oder Norwegen eine Generation gebraucht haben. Beide Länder haben übrigens viele Verträge bilateral verhandeln müssen. Nach dem endgültigen Aus in der EU wird Großbritannien notgedrungen viele Jahre mit erheblichen Marktbeschränkungen zu leben haben. Die werden den Wohlstand des Landes in Gefahr bringen.
Billiger wird es also kaum werden für den Briten. Und auch die verhassten Beiträge zur EU werden nicht verschwinden. Die EU wird von den Briten ein gutes Eintrittsgeld zum Binnenmarkt verlangen. Das zahlen auch Norwegen und die Schweiz, die eng an die EU angegliedert sind. Nur können die Briten außerhalb der EU nicht mehr mitentscheiden, was mit dem Geld passiert.
5. Der Finanzplatz London verliert an Bedeutung
Die großen Banken und Investmenthäuser dürften sich jetzt umschauen, wo in Europa noch ein Plätzchen für sie frei ist. Sie sitzen bisher in London, um von dort aus ihre Geschäfte in ganz Europa machen zu können. Das wird mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU erheblich schwerer.
In Frankfurt, Dublin und Paris sollten schon mal neue Bauflächen für Banken-Paläste ausgewiesen werden. Für Großbritannien könnte das ein herber Verlust werden. Der Finanzmarkt trägt mit acht Prozent zur Wirtschaftskraft des Landes bei. Bricht davon nur die Hälfte weg, schlittert das Land in die nächste Rezession. Manche Experten glauben, dass die britische Wirtschaft nach einem Brexit um mehr als fünf Prozent schrumpfen könnte.
6. Für Deutschland wird es teuer
Deutschland verliert einen wichtigen Verbündeten in der EU. Allerdings auch eine Nervensäge, wenn es um die Weiterentwicklung der EU geht. Wirtschaftlich gesehen ist der Brexit ein Desaster für Deutschland. Mehr als 2500 deutsche Unternehmen haben Niederlassungen in Großbritannien. Sie beschäftigen rund 370 000 Mitarbeiter und damit mehr als ein Prozent aller Berufstätigen.
Umgekehrt sind in Deutschland etwa 3000 britische Unternehmen engagiert. Großbritannien ist für Deutschland der drittwichtigste Handelspartner. Für etwa 90 Milliarden Euro im Jahr liefern deutsche Unternehmen Waren und Dienstleistungen auf die Insel. Umgekehrt sind es immerhin noch knapp 40 Milliarden Euro. Diese Beziehung ist in Gefahr, wenn künftig Handelszölle den freien Warenverkehr behindern.
Hinzu kommt: Der Brexit wird auch für Deutschland teuer. Deutschland zahlt jetzt schon 15,5 Milliarden Euro jedes Jahr an die EU. Netto. Weit mehr als alle anderen. Die Briten haben bisher knapp fünf Milliarden Euro Netto pro Jahr aufgebracht. Fällt ihr Beitrag weg, wird Deutschland den Löwenanteil übernehmen müssen.