Fur seine Patienten ist Dr. Amin Ballouz mehr als ein Arzt: Er ist Seelsorger, Freund und Familienangehöriger – und Uckermärker aus Leidenschaft. Was nicht selbstverständlich ist, denn der gebürtige Libanese hat eine Odyssee hinter sich. Der Fotograf Jonas Walter hat den 57-Jährigen begleitet.
Eine verwunschene, seenreiche Landschaft zwischen unterer Oder und oberer Havel. Hier, im äußersten Osten Brandenburgs, inmitten der Uckermark, liegt die 30 000-Einwohner-Stadt Schwedt an der Oder. Hier lebt der Hausarzt Dr. Amin Ballouz. Er ist bekannt wie ein bunter Hund. Nicht, weil er dunkelhäutiger ist, ein wenig exotischer ausschaut als die meisten hier. Auch nicht wegen seines stets formvollendeten Erscheinungsbildes: Ohne Krawatte und gewienerte Schuhe trifft man den 57-Jährigen nur selten an.
Seine Popularität ist vielmehr darauf zurückzuführen, dass Ballouz seinem Gegenüber mit Respekt, Höflichkeit und Geduld begegnet – und auch dann ein offenes Ohr hat, wenn es einmal nicht um medizinische Fragen geht. Für viele seiner Patienten gehört der Mann mit den sanften, aber wachen dunklen Augen und dem stets ein wenig schalkhaften Lächeln längst zur Familie. Dabei hat sich der Landarzt erst im Jahr 2010 in der so malerischen wie strukturschwachen Gegend niedergelassen – nach einer langen, wechselvollen und von vielen Härten geprägten Lebensreise.
Als 17-Jähriger flüchtet Ballouz 1976 vor dem Krieg aus seiner Heimat, dem Libanon. Bei der Flucht wird seine Familie für immer auseinandergerissen. Ballouz landet in der DDR, wo er Medizin studiert. Später setzt er sich nach Düsseldorf ab, betreibt dort für einige Jahre eine Praxis. Es folgen Stationen in Paris, London und in Schottland. Ballouz, verwitwet, hat vier erwachsene Kinder, von denen drei im
Ausland studieren.
Die Familie von Amin Ballouz wurde vom Krieg im Libanon für immer auseinandergerissen. Sein Leben lang war er in der Welt unterwegs, bis er in der Uckermark ansässig wurde. “Meine Patienten sind meine Familie”, sagt er heute. Und so sorgt sich der Arzt um “seine Uckermärker” – und sie sich um ihn.
Quelle: Jonas Ludwig Walter
2010 will sich der Arzt in Berlin niederlassen. Am Ende aber bekommt er wegen des Landärztemangels nur eine Zulassung in der Provinz. In der Uckermark. Hier, sagt Ballouz, habe seine rastlose Reise ihr Ziel gefunden. Hier habe er endlich das Gefühl, zu Hause zu sein.
Herr Ballouz, wie würden Sie den Begriff Heimat definieren?
In ein paar Worten kann ich das kaum sagen. Wer wie ich fliehen und Hals über Kopf alles zurücklassen musste, hat einerseits ein tiefes Verlangen nach Heimat, andererseits aber nicht dieses unerschütterliche Heimatgefühl jener Menschen, denen ihr Zuhause niemals streitig gemacht wurde. Für mich hat Heimat mit Sicherheit und Vertrauen, mit einem Wohlgefühl zu tun. Ich habe ein Leben lang nach einem solchen Ort gesucht und glaube, ihn hier, in der Uckermark, gefunden zu haben. Ich würde mich inzwischen als Uckermärker bezeichnen.
Woran liegt das?
Die Menschen hier haben mir von Anfang an das Gefühl gegeben dazuzugehören, einer von ihnen zu sein. Viele meiner Patienten zählen mich längst zur Familie, betrachten mich als ihren Bruder, Vater oder Sohn. Sie laden mich zu Hochzeiten und Geburtstagen ein. Ich feiere mit ihnen, kenne und teile ihre Freuden und Sorgen. Neben dieser Nähe und Vertrautheit bindet mich der Wunsch, etwas zurückzugeben an diesen Ort: Dieses Land hat mich vor bald 40 Jahren ausgebildet und jetzt, nach vielen Jahren im Ausland, kann ich den Menschen durch meine Fähigkeiten als Arzt eine Unterstützung sein.
Das klingt ja, als würden Ihnen keine Vorbehalte begegnen, als seien Ressentiments gegenüber Fremden in der Uckermark ein unbekanntes Phänomen.
Nein, natürlich gibt es auch hier, wie überall im Land, Anfeindungen und schlimme Parolen. Aber ich persönlich habe keine wirklich negativen Erfahrungen gemacht. Ich habe ganz schnell einen Draht zu den Uckermärkern gehabt. Zum einen, weil ich Deutschland ja schon kannte, mit der Kultur vertraut bin und die Sprache beherrsche. Zum anderen, weil ich mit vielen älteren Uckermärkern eine wesentliche Erfahrung teile: die Flucht. Es mögen unterschiedliche Länder gewesen sein, die wir zurücklassen mussten. Doch gleich ob Schlesien, Ostpreußen oder eben der Libanon: Das Gefühl, aus der vertrauten Welt gerissen zu werden, buchstäblich den Boden unter den Füßen zu verlieren, ist stets dasselbe. Und dieses Gefühl miteinander teilen zu können schafft eine ganz tiefe Verbindung.
“Hand runter!”, zischt der Patient. Seine Frau und der Doktor nennen den ehemaligen Helikopterpiloten scherzhaft den General. Der Wunde gehe es besser, berichtet dieser. Zeigen wolle er sie nicht. Morgen vielleicht.
Quelle: Jonas Ludwig Walter
Mit den Tausenden Flüchtlingen, die derzeit etwa aus Syrien oder dem Irak nach Deutschland kommen, scheint diese Verbindung indes nicht immer mit gleicher Selbstverständlichkeit zu entstehen …
Nein, sicher nicht. Ich erlebe ja selbst durch mein Engagement in der Flüchtlingshilfe tagtäglich, wo die Schwierigkeiten und Herausforderungen liegen. Zum einen wird es mit dem Ankommen und der Integration natürlich schwer, wenn es an Sprachkenntnissen fehlt. Zum anderen müssen viele Flüchtlinge überhaupt erst einmal begreifen, dass die deutsche Kultur ganz anders funktioniert als ihre eigene. Wenn etwa ein syrisches Ehepaar in meine Praxis kommt, kann es passieren, dass der Mann die Symptome beschreibt, obwohl die Frau krank ist. Es muss noch nicht mal sein, dass er sie vorsätzlich bevormundet. Der Mann weiß es nur nicht besser. Er weiß nicht, dass Frauen in Deutschland für sich selbst sprechen. Dass sie eigene Entscheidungen treffen, Auto fahren und berufstätig sind. Angesichts solch frappierender Differenzen, die sich manchmal anfühlen wie ein Entwicklungsunterschied von 100 Jahren, ist es natürlich schwer, eine gemeinsame Ebene zu finden.
Wie kann man sie finden?
Indem man aufeinander zugeht, den anderen am eigenen Leben teilhaben lässt. Meine Patienten wissen, dass ich Flüchtlingen helfe, wo ich kann – und bieten ihrerseits viel Hilfe an. Da sind schon einige Kontakte entstanden. Etwa dadurch, dass einer einfach nur ein Kinderfahrrad bei mir abgeben wollte, es dann doch selbst bei den Leuten vorbeigebracht hat und über den Kontakt zu dem Kind gleich die ganze Familie kennen- und schätzen gelernt hat.
Sie selbst sind in puncto Integration ja ein leuchtendes Beispiel. Nicht nur, dass Sie sich als Uckermärker bezeichnen. Sie fahren zudem mit einem Trabi über die Dörfer. Als Arzt müssten Sie sich doch locker ein bequemeres Auto leisten können?
Sicher, aber der Trabi bezaubert die Menschen. Der Trabi öffnet die Herzen. Schon aus der Ferne hören sie den Zweitakter knattern und freuen sich, dass der Doktor kommt. Sie freuen sich auch, weil der Trabi Erinnerungen weckt. Nahezu jeder meiner Patienten kann eine Trabi-Geschichte erzählen, zumeist eine schöne Geschichte, eine Sommerferiengeschichte. Die Leute lieben Trabis und versorgen mich laufend mit Ersatzteilen. Ich könnte glatt einen Handel damit aufmachen. Ich habe ja gleich mehrere Trabis, damit zumindest immer einer fahrbereit ist. Meine Wagen werden beansprucht. Ich fahre sehr viel und mitunter sehr weit.
Natürlich, sagt Amin Ballouz, könnte er auch einen Mercedes fahren. Aber der würde nur Distanz zwischen ihm und den Menschen schaffen.
Quelle: Jonas Ludwig Walter
Wie groß ist das Einzugsgebiet, das Sie versorgen?
Der Radius beträgt etwa 50 Kilometer. Für einige Hausbesuche bin ich also 100 Kilometer unterwegs. Zwei solcher Touren, und schon ist der ganze Vormittag weg. Ich mache sehr viele Hausbesuche. Viele meiner Patienten sind älter, kaum noch mobil. Allerdings habe ich mehr als 2000 Patienten. Damit die Betreuung wenigstens halbwegs sichergestellt ist, habe ich eine mobile Schwester angestellt, die mir Routinebesuche abnimmt. Ich bilde gerade eine zweite Kraft aus. Und trotzdem schaffen wir die Arbeit nicht. Weil es hier kaum Fachärzte gibt, warten die Leute mitunter sogar Monate auf einen Termin zur Weiterbehandlung. Und wenn sie einen bekommen haben, müssen sie mitunter eine richtige Reise auf sich nehmen. Ich habe das Leistungsspektrum meiner Praxis kontinuierlich ausgebaut, um diesen Mangel wenigstens ein bisschen ausgleichen zu können. Dennoch gäbe es hier noch etliches zu tun, viel mehr, als ich allein schaffen kann. Die medizinische Versorgung ist hier absolut dürftig.
Das bedeutet dann wohl auch, dass an geregelte Arbeitszeiten nicht zu denken ist …
Ja, das ist korrekt. Zwölf bis 14 Stunden arbeite ich fast täglich. Aber ich beklage mich überhaupt nicht. Das ist mein Leben. Das ist genau das, was ich tun will.
Dann bleibt keine Zeit für andere Dinge?
Doch, schon. Ich bin Hobbypilot, ich bin Jäger, und ich male – und bekomme alles irgendwie unter einen Hut.
Mit Ihren 57 Jahren und Ihrem Enthusiasmus für den Arztberuf besteht gewiss noch keine akute Notwendigkeit, die Nachfolge für Ihre Praxis zu regeln. Denken Sie dennoch manchmal daran, wie es später weitergehen soll?
Na klar bemühe ich mich schon jetzt darum, einen Nachfolger zu finden. Aber es ist extrem schwierig. Dabei ist meine Praxis bestens aufgestellt: Die Ausstattung ist umfassend und auf dem neuesten Stand der Technik, ich habe 2000 regelmäßige Patienten und insgesamt sogar 5000 in der Kartei. Das wäre, auch rein geschäftlich betrachtet, eine durchaus aussichtsreiche Basis für einen möglichen Nachfolger. Ganz zu schweigen von der traumhaften Natur, die ja auch ein starkes Argument ist, sich hier niederzulassen.
Amin Ballouz hat regelmäßig 24-Stunden-Bereitschaftsdienst. Es gibt Tage, an denen er mit einem seiner Trabis viele Hundert Kilometer durch die Uckermark fährt, denn viele seiner Patienten sind nicht mobil.
Quelle: Jonas Ludwig Walter
Warum ist es dennoch so schwer, einen Nachfolger zu finden?
Die Infrastruktur. Katastrophal, sage ich Ihnen! Kein nennenswertes Kulturangebot, nur eine Kneipe und eine Gaststätte, so gut wie keine Arbeitsplätze und eine dürftige schulische Versorgung. Das sind für junge Paare und Familien entscheidende Faktoren. Selbst wenn sich der Doktor hier ins gemachte Nest setzen könnte: Der Partner ist aufgeschmissen, sofern er nicht vom Homeoffice aus arbeiten kann. Schulische Versorgung besteht am Ort nur für Grundschüler. Hinzu kommen die enormen Leerstände. Mitunter leben ältere Ehepaare in Häusern, die für vier Familien gedacht sind. Strukturell geht es hier dramatisch bergab. Wenn die Polen hier nicht Immobilien kaufen würden, wäre die Gegend bald nur noch ein Anglerparadies.
In der DDR waren sogenannte Polikliniken verbreitet, also Einrichtungen, in denen Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen unter einem Dach praktizierten und so auch in strukturschwachen Gegenden eine umfassende medizinische Versorgung sicherstellten. Wäre das angesichts des Landärztemangels nicht ein erneut bedenkenswertes Modell?
Ja, durchaus. Der Vorteil der Polikliniken liegt nicht nur in ihrem breiten, fächerübergreifenden Leistungsspektrum. Sie ermöglichen es jungen Ärzten auch, sich zu überschaubareren Kosten niederzulassen, weil sie sich etwa teure Geräte und ein Labor mit den Kollegen teilen und eng abgestimmt zusammenarbeiten können. Derartig umfassende Versorgung aus einer Hand ist nicht nur patientengerecht, sondern erhöht auch die Attraktivität einer Praxis. Ein wenig lebt das aus der DDR bewährte Konzept der Polikliniken übrigens in den sogenannten medizinischen Versorgungszentren fort, die Anfang des Jahrtausends eingeführt wurden – und im Prinzip nichts anderes sind. Hat halt ein bisschen gedauert, bis man gemerkt hat, dass es in der DDR auch echte Errungenschaften gegen hat.