Die vor elf Jahren gegründete NGO “Breaking the Silence” hat anonyme Aussagen von Veteranen der israelischen Armee gesammelt, in denen Übergriffe gegen Palästinenser dokumentiert sind. Jetzt steht die Organisation unter Druck. Darüber sprach Ylenia Gostoli mit Yehuda Shaul, einem Mitgründer der NGO.
Die israelische Veteranen-Organisation “Breaking the Silence” soll gerichtlich gezwungen werden, die Identität ihrer Zeugen bekanntzugeben. Eine entsprechende Anordnung beantragte im letzten Februar die israelische Regierung beim Bezirksgericht Petah Tikwa. Anfang Mai hatte die Organisation unter dem Titel “Wie wir 2014 in Gaza gekämpft haben” anonym Zeugenaussagen von mehr als 60 Offizieren und Soldaten zur Kampfoperation “Protective Edge” im Gazastreifen im Sommer 2014 veröffentlicht. Der israelischen Armee wurden darin unter anderem systematische Verletzung des Kriegsrechts, das Deklarieren von Wohngebieten zu Kampfzonen und unethisches Verhalten vorgeworfen.
Herr Shaul, weshalb soll Ihrer Organisation auf juristischem Wege der Quellenschutz entzogen werden?
Yehuda Shaul: Weil man uns ausschalten will. Das ist der Grund dafür, weshalb man uns jetzt auffordert, die Identität von Informanten preiszugeben. Menschen, die gegenüber “Breaking the Silence” aussagen, entscheiden sich entweder selbst, ihre Identität zu offenbaren, oder sie stellen die Bedingung, anonym bleiben zu dürfen. Nur so bekommen wir ihre Berichte. Wenn man weiß, dass man sofort im Gefängnis landet, wenn man seinen Mund aufmacht, wird man das Schweigen nicht brechen wollen.
Vor etwa einem Jahr haben wir ein Buch mit Zeugenberichten über die “Operation Schutzlinie” in Gaza veröffentlicht. Nach seinem Erscheinen eröffnete die Untersuchungseinheit der Militärpolizei acht Ermittlungsverfahren über Fälle, die in diesem Buch beschrieben werden, und wir bekamen einen Brief mit der Aufforderung, mehr Angaben hierzu zu machen. Wie man sich denken kann, hatten diese Fälle nichts mit Vorschriften und politischen Maßnahmen zu tun, und auch nicht mit Regelverstößen höherer Dienstgrade. Es ging nur um das Verhalten der Soldaten im Einsatz, für das die höheren Militärbeamten nicht zur Verantwortung gezogen werden können. Es war klar, dass hier der Versuch unternommen wurde, Soldaten niedrigen Ranges als Sündenböcke zu missbrauchen. Sie wollten kleine Übertretungen der Vorschriften dazu nutzen, unsere Organisation vor Probleme zu stellen.
Shaul: Wir sind Teil einer politischen Schlammschlacht. Seit Jahren zählt unsere Organisation zu einer der renommiertesten Gruppierungen, die sich gegen die Besatzungspolitik richten. Wir sind Veteranen, die glauben, die israelischen Verteidigungskräfte sollten sich der Landesverteidigung widmen – und nicht der Aufrechterhaltung von Unterdrückung oder Besatzung. Wir glauben, dass die Besatzung moralisch falsch und unvertretbar ist – und dass sie die Moral der Streitkräfte sowie der israelischen Gesellschaft insgesamt gefährdet. In der öffentlichen politischen Arena Israels ist das Thema Besatzung gegenwärtig tabu. Und so lange dieses Tabu besteht, wird die Besatzung weitergehen.
Der ehemalige Verteidigungsminister Ya’alon hat Sie persönlich als “Verräter” bezeichnet (auch wenn er dies inzwischen zurückgezogen hat). Bildungsminister Neftali Bennet hat Sie beschuldigt, Lügen gegen die Armee zu verbreiten, und Ihnen jüngst verboten, Schulen zu besuchen. Wie haben Sie die letzten Monate erlebt?
Shaul: Menschen, die sich gegen die Regierungspolitik aussprechen und ihre Sorge über die Ereignisse in den besetzten Gebieten äußern, müssen konzertierte Angriffe hochrangiger Regierungsvertreter über sich ergehen lassen. Allein auf politisch-legislativer Ebene hat sich innerhalb von drei Wochen im letzten Dezember Folgendes ereignet: Der Ministerpräsident hat uns dreimal öffentlich angegriffen. Es gab eine Verfügung, dass wir keine Schulen und Einrichtungen der Streitkräfte mehr besuchen dürfen. Beim Ausbildungskomitee gab es eine besondere Anhörung zum Thema “Der Schaden, den ‘Breaking the Silence’ dem Staat Israel zufügt”. 58 Mitglieder der Knesset beantragten einen Boykott gegen uns. Und dann gab es natürlich noch in Israel das Gesetz, das sich gegen die ausländische Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen richtet.
Wenn uns heute Menschen zu sich einladen, müssen wir sie warnen, dass es in ihrer Nachbarschaft zu Protesten gegen uns kommen könnte. Einmal gab es einen tätlichen Angriff auf unser Büro, und bereits zweimal auf unsere Aktivisten an Universitäten. Politisch rechtsgerichtete Kräfte veröffentlichen in Blogs unsere Telefonnummern und die unserer Familienmitglieder. Sie rufen dazu auf, uns zu kontaktieren und zu belästigen. Rund um die Uhr werden unsere Systeme über das Internet angegriffen, aber nie am Sabbat, was darauf hinweist, wer dafür verantwortlich sein könnte.
Shaul: Momentan gibt es in Israel keine ernstzunehmende politische Opposition. Jeglicher Widerstand gegen die Besatzung geht nicht von den politischen Parteien aus, sondern von der Zivilgesellschaft, und deshalb stehen wir sozusagen an vorderster Front. Leider haben wir es heute mit der wohl rechtsgerichtesten Regierung seit der Gründung des Staates Israel zu tun. Diese Regierung ist meiner Meinung nach völlig unfähig – sowohl im Sicherheitsbereich als auch im Sozialwesen. Und Menschenrechtsaktivisten wie wir stören nur. Wir sind die Beute, die man den Raubtieren zum Fraß vorwirft. In den letzten 20 Jahren hat sich in Israel etwas vollzogen, was man auch als Austausch der politischen Eliten bezeichnen könnte: Das siedlerfreundliche und nationalreligiöse Lager hat den Staat nach und nach in allen Institutionen durchsetzt – das Erziehungsministerium, das Rechtswesen und die Armee. Doch es gibt eine Organisation, die der vollständigen Kontrolle der Rechten über die Streitkräfte im Wege steht, und das ist “Breaking the Silence”. Und deshalb stehen wir gegenwärtig unter Beschuss.
Was antworten Sie den Palästinensern und der politischen Linken, die meinen, “Breaking the Silence” diene lediglich der Imagepflege der Armee und verbessere das Außenbild der israelischen Demokratie?
Shaul: Unsere Aufgabe besteht nicht darin, der politischen Rechten oder Linken zu gefallen. Unsere Aufgabe ist es, die israelische Besatzungspolitik kritisch zu hinterfragen. Ich glaube nicht an Bilder, ich glaube an Inhalte, Wahrheiten und Fakten. Es geht nicht darum, wie wir von anderen gesehen werden, sondern, was wir tun. Und das müssen wir auch beim Namen nennen.