Krieg den Kirchen und Minaretten

Kriegsgedächtnis …..August 1989

BEIRUT liegt im Koma. Die „Stadt ohne Hoffnung“ brennt. „Nächte des Wahnsinns und des Todes“, nannte eine christliche Radiostation die endlosen Artillerie-Duelle, in denen Schulen, Hospitäler, Wohnungen und Geschäfte in Flammen aufgehen. „Beirut wird dem Erdboden gleichgemacht“, drohte Drusenfürst Walid Dschumblat, während seine Landsleute in ihren behelfsmäßigen Schutzräumen angsterfüllt darum beteten, der nächste Granatenhagel möge sie verschonen. Als  Linie“, die Beirut in einen Ost- und einen Westsektor teilt. Fast 800 Libanesen sind getötet und mehr als 3000 verletzt worden, seit der christliche Armeechef Michel Aoun im März den „Befreiungskrieg“ gegen die syrischen Truppen im Libanonausgerufen hat.

Der für seine ungeschminkte Ausdrucksweise bekannte Drusenfürst meldete sich am vergangenen Wochenende erneut zu Wort. Er empfahl der französischen Regierung, sie solle General Aoun auf eines ihrer Kriegsschiffe verfrachten und ihm eine Villa in Frankreich zur Verfügung stellen. Dschumblat kritisierte scharf die Anwesenheit französischer Flotteneinheiten vor der libanesischen Küste und behauptete, Frankreich unterstütze unverändert die Maroniten. Damit bezog er sich auf die traditionell engen Bindungen zwischenParis und den christlichen Maroniten, die in Frankreich seit Jahrhunderten ihre Schutzmacht sehen. „Wenn die Franzosen darauf bestehen, militärisch zugunsten der maronitischen Christen zu intervenieren, dann sollen ganz Libanon und der gesamte Nahe Osten in Flammen ersticken“, warnte der Drusenfürst.

Dschumblat steht mit seinen Drohungen nicht allein. Nahezu alle mit Syrien gegen die christliche Armee kämpfenden Milizen haben wütend protestiert, als Frankreich ankündigte, es werde den Flugzeugträger Fochzusammen mit anderen Kriegsschiffen ins östliche Mittelmeer entsenden. Die Revolutionäre Gerechtigkeitsorganisation, eine der proiranischen Terrorgruppen in Beirut, in deren Gewalt sich zwei amerikanische Geiseln befinden, erklärte am Sonntag, das Leben von Joseph Cicippio und Edward Tracy sei in Gefahr, wenn die französische Flotte im Libanon eingreife. Dabei hatte Präsident Mitterrand zuvor ausdrücklich versichert, die französischen Marineeinheiten seien nicht an die libanesische Küste geschickt worden, um eine militärische Lösung des Konflikts herbeizuführen. In Beirut bekräftigte Frankreichs Botschafter René Ala, der Flottenverband sei losgeschickt worden, um die rund 7000 französischen Staatsbürger aus Beirut zu evakuieren, falls dies erforderlich sei. Hisbollah, die pro-iranische Partei Gottes, veröffentlichte indessen eine Erklärung, die an Aggressivität nichts zu wünschen übrig läßt: „Der französische Flottenaufmarsch, der fanatische und einseitige Appell des Papstes und Amerikas Manöver im Weltsicherheitsrat sind Teil einer arroganten Kampagne gegen die Moslems. Aber diese Kampagne wird scheitern. Das Zeitalter der Kreuzzüge ist vorüber.“

Syrien und seine Verbündeten betrachten das Auftauchen des französischen Flottenverbandes als „Kanonenboot-Politik“, der unbedingt Einhalt geboten werden muß. Der syrische Vizepräsident Abdel-Halim Khaddam beschränkte sich zwar darauf, Frankreich indirekt zu kritisieren, gebrauchte dabei aber Worte, die in Paris nicht mißverstanden werden konnten. „Damaskus“, warnte Khaddam, „steht fest zu den nationalen Kräften im Libanon, die der Erpressung durch gewisse westliche Kreise ausgesetzt sind.“

Es ist kaum anzunehmen, daß Paris derartige Reaktionen der antichristlichen Front in Beirut nicht vorausgesehen hat. Wer als ehemalige Mandatsmacht mit engen kulturellen Bindungen an die Maroniten eine Armada von acht großen Kriegsschiffen in die libanesischen Gewässer schickt, setzt sich dem Verdacht aus, er führe mehr im Schilde als nur humanitäre Hilfeleistungen. Zu einem Zeitpunkt, da die christliche Enklave nördlich von Beirut einer totalen Land- und Seeblockade durch Syrien ausgesetzt ist und die christliche Armee unter General Aoun an vier Fronten gleichzeitig bedrängt wird, ist die Präsenz der französischen Flotte ein Signal – ein Fingerzeig für die Syrer, daß eine weitere Eskalation des Krieges gegen die Christen nicht tatenlos hingerommen wird.

Auch wenn General Michel Aoun den „Befreiungskrieg“ gegen die weit überlegene syrische Armee provoziert hat, so fühlt sich Frankreich doch bis zu einem gewissen Grade für das Schicksal der maronitischen Christen im Libanon verantwortlich. Die relativ großen franko-libanesischen Geneinden in Paris und in Beirut, die tiefe Verwurzelung der französischen Kultur im christlichen Libanon und auch der Druck der öffentlichen Meinung in Frankreich, sich der moralischen Verantwortung gegenüber den Christen nicht zu entziehen, erklärten das demonstrative Verhalten der f-anzösischen Regierung. Seit Ausbruch des Bürgerkrieges 1975 hat Paris zwar immer wieder bekräftigt, es ergreife nicht Partei zugunsten oder zu Lasten irgendeiner der kämpfenden Gemeinschaften. Dennoch steht Frankreich bei den Moslems in dem Verdacht, es ergreife Partei für die Christen, wenn es wirklich darauf ankommt.

Frankreich hat seit 1535 (Vertrag zwischen dem osmanischen Sultan Süleiman dem Prächtigen und dem französischen König Franz I.) stets seine schützende Hand über die Christen der Levante gehalten. Umm al-Hannoune – „die nährende Mutter“: So charakterisierten auch die Maroniten ihr Verhältnis zu Frankreich. Und auch die Franzosen machten keinen Hehl daraus, wem ihre Mühe galt. Als ihre Besatzungstruppen 1918 in Beirut eintrafen, erklärte der von Paris entsandte Geschäftsträger unverblümt, der Hauptgrund für die Anwesenheit der Franzosen sei der Schutz ihrer Freunde, der Maroniten.

Schon 1860, nachdem in den libanesischen Bergen in weniger als vier Wochen 11 000 Christen von den Drusen massakriert worden waren, zwangen die europäischen Kolonialmächte unter Führung Frankreichs den türkischen Sultan inIstanbul dazu, den Libanon in eine autonome Provinz des Osmanischen Reiches umzuwandeln. Dies geschah, nachdem Paris davon erfahren hatte, daß die Christen auch in Damaskus (am 9. Juli 1360) zu Tausenden von einem moslemischen Mob in ihren Wohnvierteln dahingemordet worden waren. Frankreich entsandte 7000 Soldaten nach Beirut, die ihr Lager in den Pinienwäldern nahe der Stadt errichteten. Ziel der französischen Intervention war die Schaffung einer politischen Ordnung im Libanon, die den Interessen Frankreichs und seiner „Schutzbefohlenen“, der Maroniten, entsprach. Auf diese Weise fungierte Frankreich als Steigbügelhalter beim politischen Aufstieg der Maroniten, die sich als „Herrn des Landes“ etablierten, als die libanesische Republik 1943 unabhängig wurde.

Die Maroniten als „christlich-libanesische Nationalisten“ sahen in dem von Frankreich geschaffenenGrand Liban, dessen Hauptnutznießer sie waren, einen Akt historischer Gerechtigkeit. Dieser christlich dominierte Staat kam in ihren Augen der Aufhebung einer moslemischen Belagerung gleich, die im 7. Jahrhundert mit dem Aufstieg des Islam begonnen hatte. Seit dreizehn Jahrhunderten leben Maroniten in „ihren Bergen“. Dementsprechend tief verwurzelt und ungebrochen sind ihre politischen und kirchlichen Traditionen. Der Libanon ist ihre ureigene Heimat, die gegen alle fremden Eindringlinge verteidigt werden muß. Ihr religiöses und kulturelles „Mekka“ fanden die Maroniten in Rom und Paris, nachdem sie durch ihren Klerus im Laufe der Jahrhunderte immer enger an die römisch-katholische Kirche und die abendländische Kultur herangeführt worden waren.

Heute, da die Maroniten von den Moslems im Libanon zahlenmäßig weit überflügelt worden sind, fürchten sie, vom „moslemischen Meer“, das sie umgibt, verschlungen zu werden. „Wir wollen keine Bürger zweiter Klasse sein wie die Kopten in Ägypten“, lautet ihre Devise. Sie verdeutlicht, warum die Maroniten mit der Kraft der Verzweiflung an ihrer politischen Vormachtstellung festhalten, welche die Moslems objektiv benachteiligt.

Zwischen dem „Beirut der Minarette“ und dem „Beirut der Kirchtürme“ klafft ein tiefer Graben, den die Libanesen selbst gegraben haben. Aber, so bekannte ein libanesischer Minister schon 1984: „Wir sind gefangen zwischen dem israelischen Hammer und dem syrischen Amboß. In vieler Hinsicht gleichen wir einem minderjährigen Kind, das zwischen seinen geschiedenen Eltern hin- und hergerissen wird. Die natürliche Wahl treibt unsere Regierung immer wieder in die Arme Syriens, weil die Erfahrung gelehrt hat, daß jede Zusammenarbeit mit Israel von Mißerfolg gekrönt wird.“

Fünf Jahre später schießen syrische Soldaten auf christliche Stellungen, deren Kommandeure sich mit Hilfe desIraks Nachschub und Munition verschaffen. Im Westsektor des geteilten Beirut liegt die syrische Armee umgeben von drusischen und schiitischen Milizen.

Beim Kampf um Beirut geht es um die Macht. Die Moslems wollen die libanesischen Staatsgeschäfte wirkungsvoller beeinflussen, als die Christen dies zuzulassen bereit sind. General Aoun kämpft seit März gegen die syrische Armee, die rund 33 000 Soldaten im Libanon stationiert hat. Während Israel im Süden des Landes einen sogenannten Sicherheitsstreifen kontrolliert, sind um die historische Stadt Baalbek herum unter den Augen der Syrer mehrere tausend iranische Revolutionswächter postiert. Syrien will den Libanon als seine Einflußzone bewahren und unterstützt die Moslems in ihren politischen Forderungen gegen die Christen, weil jene sich dem syrischen Zugriff widersetzen. Die Christen genießen die Unterstützung des Irak, weil Bagdad dem Erzfeind Syrien die letzte regionale Karte entreißen will. Zwei Monate lang hat die Arabische Liga vergeblich versucht, wenigstens eine Einstellung der Kämpfe zu erreichen. Ein Sonderkomitee, dem König Hassan von Marokko, König Fahd von Saudi-Arabien und Präsident Chadli Benjedid von Algerien angehören, hat jedoch seither praktisch nichts erreicht.

Der christliche General Aoun spricht unverdrossen vom „Befreiungskrieg“ gegen die Besatzungsmacht Syrien. Die Syrer wiederum beschimpfen den General als „Agenten Israels und des Iraks“. Aufrufe zur Feuereinstellung beantworten sie mit mörderischem Artilleriebeschuß. Wer bringt den Syrern Moral bei, und wer lehrt den Christengeneral Vernunft? Aoun müßte wissen, daß eine Lösung des Konfliktes ohne oder gegen Syrien so gut wie unmöglich ist.

Seit mehr als vierzehn Jahren ist der Libanon ein zerissenes und blutgetränktes Stück Erde. Die Libanesen durchleben und durchleiden einen Konflikt, den sie auch, aber nicht allein, zu verantworten haben. Aus eigener Kraft, so scheint es, sind die abgrundtief verfeindeten libanesischen Brüder nicht mehr imstande, diese Tragödie zu beenden. Die libanesische Krise ist Teil des sich überlagernden Nahost-Konflikts, die Libanesen selbst sind gefangen im Netz arabischer Rivalitäten und im Kräftespiel zwischen Israel und Syrien. Während Israelis und Syrer versuchen, die libanesischen Rivalen gegeneinander auszuspielen, um den Gegner zu schwächen, betrachtet der Iran den Libanon als Aufmarschgebiet revolutionärer islamischer Massen, die einen „Gottesstaat“ nach dem Muster Ayatollah Chomeinis errichten sollen. Der Irak schließlich will mit Hilfe des Christengenerals Aoun dem Erzrivalen Syrien eins auswischen.

Die haßerfüllte Konfrontation zwischen Christen und Moslems läßt das Blutvergießen als einen Religionskrieg erscheinen. Dies ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Was sich seit April 1975 im Libanon abspielt, istauch ein Bürgerkrieg zwischen fordernden Habenichtsen und abwehrenden Besitzenden. Darüber hinaus hat dieser Konflikt zusätzlich eine arabisch-islamische und eine internationale Dimension.

Sieben Jahre nach der israelischen Invasion im Libanon, deren vorrangiges Ziel die Zerschlagung der militärischen Infrastruktur der PLO war, fallen wieder Katjuscha-Raketen auf nordisraelische Siedlungen; die palästinensischen Kämpfer sind zu Tausenden mit ihren Waffen in den Südlibanon zurückgekehrt. Weder Israel, die Vereinigten Staaten noch Syrien haben es bisher vermocht, den libanesischen Sumpf auszutrocknen. Während die verfeindeten Libanesen mehr denn je unterschiedlichen politischen Visionen folgen, will Syrien heute mit brutaler Gewalt eine Pax Syrica durchsetzen, welche die syrische Vormachtstellung in Beirut zementiert. Ist angesichts dessen eine isolierte Lösung der libanesischen Krise überhaupt denkbar?