Khalil Gibran für Corona-Zeiten

Unter Intellektuellen eher verschmäht, erfreut sich “Der Prophet“ von Khalil Gibran seit seiner Erstveröffentlichung im Jahr 1923 großer Beliebtheit. Nun hat der preisgekrönte britische Illustrator Pete Katz die Erzählung für das Corona-Zeitalter adaptiert und als Graphic Novel neu herausgebracht.

“Der Prophet“ des libanesisch-amerikanischen Dichters Khalil Gibran (1883-1931) gehört zu den zeitlosen spirituell-literarischen Werken und strahlt bis heute eine Faszination für viele aus. In der Adaption von Pete Katz bleibt The Prophet: A Graphic Novel  bei der rhythmischen Prosa des Originals, mit der sich bei Khalil Gibran der Prophet Al Mustafa vor seiner Rückkehr aus dem Exil auf der Insel Orphalese seinen Betrachtungen widmet. Katz übernimmt diese spirituellen Reden und ändert lediglich ihre Reihenfolge.

Rund um diese Prosagedichte bringt Katz eine moderne Erzählung, die aber die zeitlose Wirkung des Originalwerks noch unterstreicht: Die Künstlerin Al erhält nach der Krankenhauseinweisung ihres Vaters Unterstützung von dem befreundeten Krankenpfleger Andrew, der ihr ein Exemplar von Gibrans “Der Prophet“ schenkt. Das Buch soll ihr in dieser schwierigen Zeit helfen, so wie es ihm selbst einst geholfen hat.

Die moderne Rahmenerzählung mit der Protagonistin Al einerseits und Gibrans Prosagedichte des Propheten Al Mustafa andererseits sind in der Graphic Novel ineinander verschränkt, so dass sie sich wechselseitig reflektieren. Beim Lesen des geliehenen Buches findet sich die Künstlerin Al mit ihrem eigenen, modernen Narrativ in den Worten wieder, die der Prophet Al Mustafa in seinen bewegenden Abschiedsworten an die Menge ausdrückt, bevor er in der Erzählung das Schiff Richtung Heimat besteigt. Dabei ist die Erzählung von Al größtenteils am denkbar zentralen Ort der aktuellen COVID-Pandemie verortet ist, dem Krankenhauszimmer. Dort reflektiert sie über ihren Schmerz, das Trauma, die Abnabelung vom Vater und ihre eigenen Empfindungen.

Die Originalmotive aus dem Werk von Gibran finden sich auch in der von Katz geschaffenen Ästhetik mit ihren romantisch-verträumten, empfindsamen Porträts wieder.Ausschnitt aus "The Prophet: A Graphic Novel"; Quelle: Pete Katz Illustration; Facebook
Eine bildliche Darstellung der romantischen Poesie von Khalil Gibran: Bei Gibran ist es der Prophet Al Mustafa, der zwölf Jahre lang auf der Insel Orphalese darauf gewartet hat, dass ein Schiff ihn endlich in seine Heimat zurückbringt. Vor seiner Abreise bitten ihn einzelne Einwohner der Stadt, ihnen ein letztes Mal seine Einsichten zu verkünden. Der Illustrator Pete Katz setzt die vom Propheten bemühte Metapher von der Seefahrt mit zwei Illustrationen ins Bild: Die eine zeigt ein ruhiges Meer, das ein Schiff sicher auf den Wellen trägt. Die andere, hier abgebildete, zeigt eine stürmische See, die das Schiff zu verschlingen droht.

Für Studenten der Literatur aus der Romantik oder konkret der Werke Gibrans kann die Graphic Novel von Katz, ebenso wie seine früheren Illustrationen und Adaptionen von Klassikern wie Die Kunst des Krieges von Sunzi und Frankenstein von Mary Shelley, durchaus der Einstieg in diese literarisch-künstlerische Epoche und eine ihrer umstrittensten Figuren sein. Umstritten war Gibran in dem Sinne, dass sich an ihm die Geister aus populärer und akademischer Sicht scheiden.

Der Dichter als Lehrer und Visionär

Wahrscheinlich erschienen Gibrans sentimentale, romantische Prosagedichte bei ihrer Erstveröffentlichung bereits antiquiert oder gar kitschig. Doch für Studenten der Epoche der Empfindsamkeit und der Romantik ist gerade diese Sentimentalität von Gibrans Prosa, ungeachtet ihrer kritischen Rezeption, besonders interessant. Denn Gibran kommt das Verdienst zu, den Stil der literarischen Epochen der Romantik und Empfindsamkeit mit “Der Prophet“ wiederbelebt zu haben.

Es heißt, die Figur des Propheten Al Mustafa offenbare Gibrans romantisches Verständnis von der Rolle des Dichters als Lehrer und Visionär, da er auszudrücken vermag, was die Menschen nur schwer in Worte fassen können. So sagt Al Mustafa zu der um ihn versammelten Menge:

“Ich weiß um eure Freude und euren Schmerz […] und eure Herzschläge waren in meinem Herzen, und die Träume eures Schlafes waren meine Träume… Ich spiegelte die Höhen in euch und die sich neigenden Hänge und selbst die vorüberziehenden Herden eurer Gedanken und Wünsche…“

Auch der Philosoph und Schriftsteller Ralph Waldo Emerson (1803 – 1882) verweist auf die doppelte Rolle als Dichter und Prophet: “Dass der Dichter verkündet, was kein Mensch vorhergesagt hat, kennzeichnet und legitimiert ihn… er allein erzählt Neues, denn er ist von Beginn an eingeweiht in das, was er beschreibt, und darin gegenwärtig.“

Die Menge bittet den Propheten Al Mustafa bei seiner Abreise, seine Wahrheiten über die Liebe, über Freundschaft, Arbeit und Leiden zu offenbaren. Er kommt dieser Aufforderung nach, ohne sich über seine Mitmenschen zu erheben oder sich von ihnen abzusetzen. Die Stimme des Propheten ist geprägt von einem romantischen Humanismus, der im Dienst der Menschen steht, nicht im Gegensatz oder in Abgrenzung zu ihnen. Auch die versonnenen, empfindsamen Porträts mit ausdrucksstarken Gesichtern und ihren freundlichen, lebhaften Augen, die Katz von Al Mustafa und den Menschen um ihn herum zeichnet, betonen dieses Wohlwollen.

Illustrationen, die Menschen, Flora und Fauna surrealistisch zu Arabesken zusammenfügen, stehen sinnbildlich für die Beziehung zwischen dem Individuum und der Natur. Die vom Propheten bemühte Metapher von der Seefahrt wird in zwei Illustrationen ins Bild gesetzt: Die eine zeigt ein ruhiges Meer, das ein Schiff sicher auf den Wellen trägt. Die andere zeigt eine stürmische See, die das Schiff zu verschlingen droht. Er betont damit die Untrennbarkeit des Menschen von seiner natürlichen Umgebung.

Und tatsächlich verweisen Katz’ detailreiche und lebendige Illustrationen auf die Ideale der Romantik zur Einheit von Mensch und Natur. Aber sie enthüllen auch die Zerrissenheit des Menschen: In ineinandergreifenden Mustern wird ein Sternenhimmel hälftig geteilt, in anderen Illustrationen sind Objekte aus der Natur, wie Tiere, Pflanzen oder Ähren, zu sehen während im Hintergrund die Elemente der Zivilisation wie eine Küche, ein Herd und ein zum Mahl gedeckter Tisch stehen.

Neuverortung des Zeitlosen

Auch wenn Katz das Werk von Gibran in einer modernen Rahmenerzählung neu verortet, so gehen die romantischen Ideale von Gibrans Werk nicht verloren: Der zentrale Ort, an dem die junge Frau um ihren Vater trauert, das Krankenhaus, gezeichnet in gedämpften Tönen und klaren Linien, kontrastiert mit dem lebendigen, üppigen Hintergrund der Rahmenerzählung mit seinen bunten Arabesken.

Doch die Wirkung der Kern-Erzählung auf diesen Rahmen ist zeitlos: Die Beziehungen, die der Prophet Al Mustafa mit seiner Umgebung auf zutiefst humane Art zu bewahren sucht, treiben die verzweifelte, entwurzelte Al dazu, sich wieder mit ihrer eigenen Gemeinschaft zu verbinden. So kann sie aus ihrer Trauer herausfinden (“Und eure Herzschläge waren in meinem Herzen, und die Träume eures Schlafes waren meine Träume.“)

Nicht umsonst widmet Katz sein Buch „den mutigen medizinischen Fachkräften und engagierten Menschen, die weltweit im Namen der Menschheit an vorderster Front gegen das Coronavirus kämpfen.“ Betrachtet man das Krankenzimmer als zentrales Symbol des Traumas unserer Zeit, so mag die Aktualität von Pete Katz‘ Erzählung in einem Verständnis von Gemeinschaft liegen, die unser Überleben sichert.

Wie sagt der Prophet Al Mustafa: “Wie eine riesige Eiche, mit Apfelblüten bedeckt, ist euer innerer Mensch. Seine Kraft bindet euch an die Erde, sein Duft hebt euch in den Himmel, und in seiner Stärke seid ihr unsterblich.“

Quantara.de