Abgeordnete: “Werden uns nicht einschüchtern lassen” – Merkel und Gabriel fehlen bei Abstimmung, die Türkei reagiert verärgert
Norbert Lammert (CDU) ist ein besonnener Politiker. Als Bundestagspräsident hat er schon unzählige Tagesordnungspunkte zur Debatte aufgerufen, meist wird ein Punkt nach dem anderen “abgearbeitet”. Doch am Donnerstag erlaubt er sich in seiner Funktion als Hausherr ein paar einleitende Worte, bevor die Debatte um jene Resolution startet, in der das Hohe Haus die Massaker an den Armeniern durch das Osmanische Reich vor 101 Jahren als Völkermord verurteilt. Er kritisiert, bevor er dem ersten Redner das Wort erteilt, die Drohungen, die es von türkischen Organisationen gegen die Bundestagsabgeordneten gegeben hat. “Wir werden sie nicht hinnehmen und uns ganz gewiss von ihnen nicht einschüchtern lassen”, sagte er. “Wir nehmen unsere Verantwortung wahr.
Es gibt keinen Abgeordneten, der keine Post bekommen hätte. “Über 90 Prozent der türkischen Bevölkerung lehnen zu Recht den Völkermordvorwurf ab und werten ihn als Verleumdung”, heißt es in den Mails. Sollte die Resolution verabschiedet werden, wäre das “Gift für das friedvolle Zusammenleben zwischen Deutschen und Türken hierzulande, aber auch in der Türkei”. Doch auch der erste Redner bei der Debatte, Rolf Mützenich (SPD), sagt: “Wir als Abgeordnete lassen uns nicht einschüchtern – egal von welcher Seite.” Und er erklärt: “Gegenstand der Debatte ist der Völkermord an den Armeniern. Es geht nicht um die Person des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan.”
Merkel, Gabriel, Steinmeier abwesend
Gregor Gysi (Linke) betont, gerade Deutschland mit seiner Vergangenheit habe eine “historische Mitverantwortung”. Daher “müssen wir aktiv an der Aufarbeitung mitarbeiten”. Gysi ist der Einzige, der die Abwesenheit von Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisiert. Diese lässt zwar durch ihre Vizeregierungssprecherin Christiane Wirtz ausrichten, sie habe tags zuvor bei der Probeabstimmung in der Fraktion für die gemeinsame Resolution von Union, SPD und Grünen gestimmt. Aber nun hat sie andere Termine, sie hält eine Rede zum Thema Digitalisierung in Berlin.
Auch Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) steht voll hinter der Resolution – grundsätzlich. Mitstimmen kann er dennoch nicht, weil er auch eine Rede hält, und zwar zum Thema Bauwirtschaft. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) ist in Südamerika, er fehlt ebenfalls. Gysi: “Eine Regierung ist nur dann souverän, wenn sie Menschenrechtsverletzungen klar benennt und verurteilt. Nicht nur dann, wenn es politisch gerade passt – immer!” Er kritisiert auch, dass die Union die Linke nicht bei der Formulierung des Antrags dabeihaben wollte.
“Keine moralische Hoheit”
Cem Özdemir (Grüne) ist der erste Redner, der auch die Vertreter der armenischen Gemeinde in Deutschland begrüßt, die auf der Besuchertribüne sitzen und das Geschehen von oben verfolgen. Er wendet sich aber auch an die Türkei: “Unseren türkischen Freunden möchte ich sagen: Es geht nicht um Fingerzeigen. Wir beanspruchen keine moralische Hoheit.” Aber Deutschland habe eine “historische Verantwortung, Armenier und Türken zur Aussöhnung zu ermutigen”. Man wolle auch diejenigen “ermutigen, die Fragen stellen”.
Franz Josef Jung (CDU) argumentiert ähnlich: “Zur Aussöhnung ist die Aufarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit unabdingbar.” Dann erfolgt die Abstimmung: Es gibt eine überwältigende Mehrheit, auch die Linke stimmt dem Antrag zu, nur in der CDU sind am Schluss eine Neinstimme und eine Enthaltung zu vermerken. Bevor die armenischen Gäste die Besuchertribüne verlassen, halten sie noch weiße Papierblätter in die Höhe. “#AnerkennungJetzt” steht darauf. Und: “Danke”.
Botschafter kehrt noch am Donnerstag nach Ankara zurück
Die Reaktion aus Ankara ließ nicht lange auf sich warten: Aus Protest gegen die Armenier-Entschließung ruft die Türkei ihren Botschafter aus Berlin zurück. Hüseyin Avni Karslıoğlu werde noch am Donnerstagnachmittag das Flugzeug nach Ankara besteigen, meldete die regierungsnahe Zeitung “Yeni Şafak” online. Die türkische Regierung hat den Geschäftsträger der deutschen Botschaft in Ankara ins Außenministerium zitiert. Das Gespräch sei für den Nachmittag geplant, hieß es am Donnerstag in diplomatischen Kreisen. Der deutsche Botschafter Martin Erdmann hält sich derzeit nicht in der türkischen Hauptstadt auf.
Nach den Worten des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan wird die Bundestagsentscheidung “ernste” Folgen für die Beziehungen zwischen beiden Ländern haben. Ministerpräsident Binali Yıldırım kritisierte den Bundestagsbeschluss ebenfalls. Laut der offiziellen Nachrichtenagentur Anadolu sagte Yıldırım, die Türkei habe noch nie vor irgendjemandem das Haupt gebeugt.