“Sie schlachten uns wie die Hühner”
Die IS-Dschihadisten haben die am Sinai lebenden Christen als leichtes Ziel ausgemacht. Den Anfang bildete eine Mordserie, mit der die religiöse Minderheit eingeschüchtert und in Panik versetzt werden sollte. Die Folge ist ein christlicher Exodus aus dem Nordsinai. Karim El-Gawhary berichtet aus Ismailia.
In der kleinen evangelischen Kirche in der ägyptischen Stadt Ismailia am Suezkanal wartet ein halbes Dutzend christlicher Familien darauf, was das Schicksal ihnen als nächstes beschert. Sie gehören zu den Christen, die in den letzten Tagen vor dem IS- Terror im Nord-Sinai geflohen sind. Die älteren sehen müde aus, sitzen auf Stühlen herum und trinken Tee. Ein paar Kinder spielen Fußball.
El-Arisch, der größte Ort im Nordsinai, aus dem sie geflohen sind, liegt weniger als zwei Autostunden von hier entfernt. Dort herrscht seit Jahren ein Krieg zwischen den militanten Dschihadisten des IS und dem ägyptischen Militär, dem bereits hunderte Soldaten zum Opfer gefallen sind. Wie viele Menschen auf der anderen Seite getötet wurden, und ob es sich dabei wirklich immer um militante Islamisten handelt, weiß niemand. Medien sind aus dem Nordsinai de facto ausgesperrt.
Vor zwei Wochen drangen dann erste Nachrichten nach Kairo, die dem Konflikt eine neue Dimension verliehen. Das war der Zeitpunkt, als die Mordserie gegen Christen begann. Anderes als das Militär, sind diese im Nordsinai lebenden christlich-koptischen Familien für die Militanten ein leichtes Angriffsziel. Das Muster war immer das gleiche. Ein paar maskierte Männer suchten Christen an ihrem Arbeitsplatz oder zu Hause auf und richteten sie kaltblütig hin. Propagandistisch untermalt wurde das Ganze in Form eines neuen IS-Videos. Der Tenor lautet, die “Kampagne gegen Christen und Kreuzfahrer” in Ägypten weiter zu verstärken, nachdem der IS bereits im vergangenen Dezember in einer christlich-koptischen Kathedrale in Kairo eine Bombe zündete, die 28 Menschen während des sonntäglichen Gottesdienstes getötet hatte.
Doch nun hat sich der Terror gegen Christen auf den Nordsinai verlagert. “Allein in den letzten Tagen haben sie sieben oder acht Christen umgebracht”, berichtet der koptische Gemüsehändler Adel Munir, der mit seiner Frau im Kirchenhof sitzt und vor drei Tagen nach Ismailia geflohen ist. “Sie haben uns wie Hühner abgeschlachtet. Was sollen wir da noch in El-Arisch? Sie tauchen auf einmal in deinem Haus auf, davor wartet ihr Wagen mit laufendem Motor, und dann wirst du hingerichtet”, beschreibt er die Vorgehensweise, die in den letzten Tagen zu einer regelrechten Panik unter den Christen im Nordsinai geführt hatte. Seitdem hat ein christlicher Exodus aus dem Nordsinai eingesetzt.
Jagd auf Kopten: Nach den gewalttätigen Übergriffen durch IS-Dschihadisten sind hunderte Kopten von der ägyptischen Sinai-Halbinsel geflohen. Viele von ihnen suchten Schutz in der Stadt Ismailia am Suezkanal, wo in einer einzigen Kirche rund 250 geflohene Kopten eine vorübergehende Bleibe fanden. Die christliche Minderheit wird in Ägypten seit langem von radikalen Islamisten bedrängt; die gewaltsamen Übergriffe intensivierten sich, seitdem die Dschihadistenmiliz IS kürzlich in einem Video zu Gewalt gegen Kopten aufrief.
Binnen drei Tagen kamen hundert der 160 im Nordsinai lebenden koptischen Familien in Ismailia an. Für sie ist der Suezkanal die Trennlinie zwischen IS-Terror und Sicherheit. Das Leben sei für die Christen im Nordsinai bereits in den letzten Jahren bitter gewesen, erzählt Adel. Zunächst habe man ihm ein Stück Land geklaut, später sein Motorrad und dann wurde ihm gedroht, seine Töchter zu entführen. Immer wieder sei seine Familie als “Ungläubige” beschimpft worden, fasst er die letzten Jahre zusammen.
Mit vielen Muslimen in El-Arisch verbinde ihn ein freundschaftliches Verhältnis, aber auch unter denen herrsche Angst vor den IS-Dschihadisten. Und dann, erzählt er, begannen in den letzten Wochen die ersten Todeslisten mit christlichem Namen zu kursieren. Adel ist wütend, nicht nur über seine Vertreibung, auch über den ägyptischen Staat. “Wo sind die Sicherheitskräfte, wo ist die Provinzverwaltung, wo ist die Regierung in Kairo?”, fragt er.
Kaum hat Adel zu Ende gesprochen, da tritt ein junger Mann hervor. Er habe noch Familie in El-Arisch, daher wolle er unerkannt bleiben. Dann beginnt er zu erzählen. Von Dr. Bahgat dem christlichen Tierarzt zum Beispiel, den vermummte Männer in seiner Praxis aufgesucht und niedergeschossen hatten. Oder Gamal dem Lehrer, dessen Namen sie im Basar gerufen hatten. Als er sich umdrehte, hatten sie ihn vor allen Leuten regelrecht hingerichtet. Oder Midhat und dessen Vater, eine christliche Familie in ärmlichen Verhältnissen. Sie klopften an deren Tür, erschossen den Vater, als dieser aufmachte und später den Sohn im Haus, das sie anschließend in Brand setzten. Übrig blieben nur verkohlte Reste – keine Leichen, die man noch hätte begraben können, erzählt der junge Mann verbittert.
Vor der Kirche halten mehrere Kleinlastwagen mit Spenden, die von der Bevölkerung Ismailias kommen. Eine Gruppe junger Leute hilft beim Ausladen von Essen, Kleidung und Möbeln. Die Jugendlichen kennen sich aus den Zeiten des Aufstandes gegen Mubarak. Zu ihnen gehört auch die junge Hadeer Bakr, die eine auffällig bunte Halskette und ein ebenso farbenprächtiges Kopftuch trägt. “Die meisten, die hier aushelfen, sind Muslime. Zwischen uns gibt es keine Probleme, die Christen sind unsere Freunde”, sagt sie. “Wenn es ein Problem gibt, dann zwischen uns und dem IS”, fügt die Muslimin und angehende Anwältin hinzu.
Die Kopten sind die größte christliche Glaubensgemeinschaft im Nahen Osten und machen etwa zehn Prozent der 90 Millionen Einwohner Ägyptens aus. Dschihadistengruppen werfen den Kopten in Ägypten vor, den Sturz des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi Mitte 2013 unterstützt zu haben. Ein Selbstmordattentäter hatte sich am 11. Dezember während einer Sonntagsmesse in der koptischen Kirche St. Peter und Paul in Kairo in die Luft gesprengt. 27 Menschen wurden damals getötet.
Eine alte Frau sitzt am Eingang der Kirche zusammengekauert auf einem Stuhl und weint laut. Um sie herum hat sich eine Gruppe von Menschen versammelt, die versucht, sie zu beruhigen. “Mein Sohn Wael, stand in El-Arisch in unserem Krämerladen und hatte gerade mit seinem Handy gespielt als sie hereinkamen und ihm die Waffe auf die Brust gesetzt und abgedrückt haben. Er hat noch nicht einmal Zeit gehabt aufzublicken”, erzählt Magda Labib.
Eine schwangere Frau, die ebenfalls im Laden war, hätten sie auf die Straße gezerrt und dort liegen lassen. Hinterher hätten sich die Täter ganz gelassen selbst bedient, eine Cola getrunken und Chips gegessen, bevor sie gegangen seien. “Was sind das für Menschen?!”, fragt Magda. “Und wo war eigentlich die Polizei?”
Das Ganze fand an einer der Hauptstraßen in El-Arisch statt. Auch hätte keiner der Passanten gewagt einzugreifen. Dann überschlägt sich ihre Stimme, während ihr die Tränen über das Gesicht laufen. “Sie haben mir meinen Sohn genommen. Er war mein ein und alles. Wo bist du jetzt Wael? Wer klopft mir jetzt zärtlich auf die Schulter?, schluchzt sie. “Sie haben mein Herz gebrochen”. Dann versagt ihre Stimme.
Karim El-Gawhary