- Laut Medienberichten und Politikern ist die Flüchtlingskrise wieder da
- Aber kommen wirklich so viele Flüchtlinge nach Europa wie im Herbst 2015?
- Diese zwölf Zahlen zur neuen Flüchtlingskrise solltet ihr kennen
Die Flüchtlingskrise ist zurück, warnen Medien, schreiben Forscher und sagen Politiker.
“Wenn wir jetzt nicht handeln, droht sich die Situation zu wiederholen”, mahnte sogar SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz an.
Österreichische Soldaten stehen derweil bereit, um den Brenner abzuriegeln. Und von Tag zu Tag verschärft sich die Situation an der Küste Italiens.
Jeden Tag machen sich hunderte Flüchtlinge von Libyen in unsicheren, meist viel zu kleinen Booten auf den Weg. Und es werden mehr Menschen sterben, weil es immer weniger Schiffe gebe, klagt Volker Westerbarkey, Deutschlandchef von Ärzte ohne Grenzen, im Gespräch mit der Zeitung “Die Welt” an.
Aber wie schlimm ist die Situation wirklich?
Wir haben uns die wichtigsten Zahlen angeschaut – und mit der Situation 2015 verglichen.
129.903 Asylanträge in Deutschland
In Deutschland wurden zwischen Januar und Juli 2017 laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 129.903 Asylanträge gestellt.
Das ist weniger als ein Drittel der Anträge, die im gleichen Zeitraum 2016 eingingen.
In der Hochphase der Flüchtlingsbewegung 2015 gingen dagegen allein zwischen September und Dezember 204.041 Asylanträge in Deutschland ein, 2016 waren es insgesamt 745.545.
Ein Szenario, das sich angesichts der verschärften Asylgesetze und des Abgrenzungsregimes in Europa in Zusammenarbeit mit der Türkei und den nordafrikanischen Staaten wohl kaum wiederholen wird.
Die Ereignisse von 2015 seien nicht vom Himmel gefallen, sagt Jochen Oltmer, Professor am Osnabrücker Institut für Migrationsforschung, der HuffPost.
“Vor dem Hintergrund von Ereignissen wie dem Arabischen Frühling und der Finanzkrise sind die europäischen Grenzregime destabilisiert worden”, erklärt er. “Seit 2015 lässt sich das Bemühen erkennen, diese Grenzregime wieder zu rekonstruieren – sie sogar noch weiter auszubauen als zuvor.”
44,4 Prozent bewilligte Anträge
Die Behörden bewilligten in diesem Jahr 44,4 Prozent der Asylgesuche. Die meisten der bearbeiteten Anträge wurden jedoch schon im vergangenen Jahr gestellt. Von 444.359 Anträgen, die das Bundesamt für Migration vor sich hatte, wurde 197.119 Menschen Schutz zugesprochen.
25.000 aus Deutschland abgeschobene Geflüchtete
Nur wenige Flüchtlinge werden derweil tatsächlich abgeschoben. In Deutschland befinden sich aktuell 222.000 Ausreisepflichtige, in diesem Jahr wurden aber laut einer ZDF-Recherche nur knapp 25.000 Menschen abgeschoben.
97.247 neu angekommene Flüchtlinge in Italien
Laut der Flüchtlingsorganisation der UN (UNHCR) sind bis einschließlich August diesen Jahres alleine in Italien 97.247 Flüchtlinge angekommen. Im Vorjahr waren es laut der Behörde im gleichen Zeitraum 101.512.
85.154 der nach Italien Geflüchteten haben zwischen Januar und Juli 2017 demnach einen Asylantrag gestellt. 2016 waren es bis Ende Juli nur 60.265 gewesen. In Spanien kamen in diesem Jahr bisher 8700, in Griechenland 12.440 Geflüchtete über das Mittelmeer an.
Dennoch wird immer wieder auch davon berichtet, dass die Zahl der über das Mittelmeer kommenden Geflüchteten gestiegen sei. Das liege auch daran, dass je nach Quelle die Zahlen unterschiedlich erhoben werden würden, sagt Jochen Oltmer, Professor am Osnabrücker Institut für Migrationsforschung, der HuffPost. Italiens Regierung habe etwa teilweise andere Zahlen als der UNHCR.
“Insgesamt lässt sich mit Vorsicht sagen: Die Zahl der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer kommen, ist im Vergleich zum Vorjahr vielleicht leicht gestiegen”, sagt Oltmer. “Doch angesichts der Tatsache, dass andere Wege nach Europa nicht mehr zur Verfügung stehen – über den Balkan oder über die Türkei – müsste man an sich erwarten, dass die zentrale Mittelmeerroute noch deutlich häufiger genutzt wird.”
Oltmer sagt der HuffPost: “Das Einbeziehen Libyens in die europäischen Anstrengungen, die Zahl der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer kommen, zu reduzieren, scheint zu funktionieren. Es werden zunehmend weniger Menschen internationale Gewässer und italienisches Hoheitsgebiet erreichen.”
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Wenn die Menschen Libyen – als Land laut Oltmer eine “Blackbox” – nicht verlassen könnten, dann bedeute dass eben, dass tatsächlich weniger Menschen Italien erreichen und in Europa um Asyl nachsuchen könnten.
“Die Argumentation war immer wieder: Die Schleusen sind offen”, sagt Oltmer. “Es ist umgekehrt: Die Schleusen sind geschlossen.”
15.937 Mittelmeer-Flüchtlinge aus Nigeria
Dabei wird die zentrale Mittelmeerroute für Geflüchtete aus den Subsahara-Staaten immer wichtiger.
Von den in diesem Jahr in Europa ankommenden Flüchtlingen kamen laut Frontex 15.937 aus Nigeria und 8550 aus Guinea. Die zentrale Mittelmeerroute führt über die Stadt Agadez im Niger, dann direkt oder indirekt nach Libyen und anschließend nach Lampedusa oder Malta.
Auch für Geflüchtete aus Ostasien wird diese Route durch den Türkei-Deal zum nahezu letzten Ausweg: 8660 Flüchtlinge aus Bangladesch kamen 2017 bisher über die zentrale Mittelmeerroute nach Europa.
15.755 Mittelmeer-Flüchtlinge aus dem Nahen Osten
Über die östliche Mittelmeerroute, die über Ägypten, Jordanien, den Libanon, Syrien und die Türkei nach Griechenland führt, kamen laut Frontex in der ersten Jahreshälfte 15.755 Flüchtlinge. Die Mehrheit (5864) aus Syrien, dazu 1856 aus dem Irak und 1630 aus Pakistan.
14,4 Prozent Nigerianer
Die meisten Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa kommen (14,4 Prozent), sind aus Nigeria. 9,4 Prozent der Migranten kommt aus Guinea in die EU, 8,8 Prozent von der Elfenbeinküste, 8,4 Prozent aus Bangladesch. Erst dahinter folgt Syrien mit 7,5 Prozent.
Mindestens 2224 Tote
In den ersten sieben Monaten des Jahres sind laut der Internationalen Organisation für Migration 2224 Flüchtlinge bei ihrer Flucht auf der zentralen Mittelmeerroute gestorben. Einer von 36 Flüchtlingen, die nach Italien flüchten wollen, überlebt die Reise nicht.
2016 standen die Chancen noch weit besser. Im vergangenen Jahr starb einer von 88 Flüchtlingen.
Doch: Das sind nur die Toten, von denen die Behörden wissen. Die Dunkelziffer der Opfer im Mittelmeer liegt wahrscheinlich sehr viel höher. Tausende Menschen sind wohl in den Fluten gestorben, von denen in Europa nie jemand etwas erfahren wird.
61 Prozent mehr Geflüchtete im Winter
Auch schlechtes Wetter hält die Schmuggler nicht von ihrem Geschäft ab. In den vier Monaten zwischen November 2016 und Februar 2017 kamen 35.448 Flüchtlinge in Italien an. Das sind 61 Prozent mehr, als in den Wintermonaten in den Jahren davor.
1.205.095 Asylsuchende 2016 in Europa
Im vergangenen Jahr beantragten 1.205.095 Menschen in der Europäischen Union Asyl. Weltweit befanden sich aber laut dem Flüchtlingshilfswerk der UNHCR 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht.
55 Prozent aller weltweiten Geflüchteten kommen Stand Juni 2017 aus nur drei Ländern: dem Sudan, Afghanistan und Syrien.
Größtes Aufnahmeland ist mit Abstand mit 2,9 Millionen Flüchtlingen laut der UNHCR die Türkei. Es folgen Pakistan, der Libanon, der Iran, Uganda und Äthiopien.
8 Prozent in Deutschland bewilligte Nigerianer
Rund acht Prozent der Nigerianer, die in Deutschland einen Asylantrag stellen, dürfen auch im Land bleiben. Das sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) anlässlich des Besuchs des nigerianischen Präsidenten Muhammadu Buhari.
In der gesamten Region Kamerun, Tschad, Nigeria sind rund elf Millionen Menschen auf der Flucht.
40 Prozent Schutzsuchende in Italien
Der italienische Premierminister Paolo Gentiloni hat vor Kurzem behauptet, dass 85 Prozent der Menschen, die aus Afrika in die EU kommen, Wirtschaftsflüchtlinge seien.
Das ist wohl etwas übertrieben: Denn die Chance, dass ein Asylbewerber in Italien Schutz bekommt, liegt bei rund 40 Prozent.
Und das ist kein Indiz dafür, dass es sich bei den meisten Menschen um Wirtschaftsmigranten handelt. Zudem ist es ohnehin umstritten, Migranten in Wirtschaft- und Nicht-Wirtschaftsmigranten zu unterscheiden. Einige Wissenschaflter sprechen von “Überlebensmigranten”, für die die Flucht die einzige Möglichkeit ist, ihre Existenz und die ihrer Familie zu sichern.
Nur eine unversehrte Frau aus einem libyschen Lager
Die Hilfsorganisation Oxfam hat Flüchtlinge befragt, die in Auffanglagern in Libyen untergebracht waren, bevor sie nach Italien gekommen waren. Die 158 Flüchtlinge berichteten von schlimmsten Umständen. Nur eine der befragten 31 Frauen hatte in den libyschen Lagern keine sexuelle Gewalt erlebt.
Libyen ist ein von Gewalt geprägter, zerfallener Staat. Das Land hat nie die Genfer Flüchtlingskonvention unterschrieben. Werden in Zukunft mehr Flüchtlinge dort auf dem Weg nach Europa stranden, wird das Grauen, über das Oxfam berichtet, ihr Alltag sein.