Libanon, Türkei, Bangladesch, Irak – nie hat der IS in so schneller Folge Großanschläge durchgeführt. Die blutige Gewaltserie läutet ein neues Kapitel ein. Die Dschihadisten haben nur eines im Sinn.
Die Flammen schlugen mehrere Meter hoch in den Nachthimmel von Bagdad. Die Feuerwehr versuchte verzweifelt zu löschen, um das Übergreifen des Brandes auf weitere Teile des beliebten Einkaufsviertels Karrada zu verhindern. Ständig rasten Krankenwagen heran, um noch mehr Verletzte zu versorgen.
Es war ein Horrorszenario, das die Explosion eines mit Sprengstoff beladenen Kühllasters ausgelöst hatte. Mindestens 213 Menschen kamen ums Leben, und mehr als 200 wurden bei diesem besonders verheerenden Anschlag verletzt, für den die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) die Verantwortung übernahm.
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Die besondere Heimtücke passt zum IS: Im heiligen Fastenmonat Ramadan sind die Straßen in Karrada abends besonders voll, weil die Menschen nach einem entbehrungsreichen Tag endlich wieder essen dürfen. In Restaurants saßen Familien, in den Cafés schaute man gerade die EM-Partie Deutschland gegen Italien. Dann kamen Tod und Chaos. Diesen Zustand will der IS jetzt möglichst überall in der Welt hervorrufen können.
Die Detonation der Autobombe im Zentrum von Bagdad ist schon der vierte große Anschlag des IS innerhalb einer Woche. Am Montag jagten sich acht Selbstmordattentäter in einer libanesischen Grenzstadt zu Syrien in die Luft. Wie durch ein Wunder gab es in Kaa, einem überwiegend von Christen bewohnten Ort, nur fünf Todesopfer und 30 Verletzte.
Am Dienstagabend stürmten drei Selbstmordattentäter den Atatürk-Flughafen der türkischen Metropole Istanbul und töteten 44 Menschen. Am Freitagabend folgte eine Geiselnahme im “Holey Bakery Café” in Bangladeshs Hauptstadt Dhaka. Mit Macheten machten die IS-Terroristen dort 20 der insgesamt 33 Geiseln nieder. Wer von den Überlebenden keine Koranverse rezitieren konnte, wurde stundenlang gefoltert.
Der Abgang des IS soll möglichst blutig inszeniert werden
Es ist eine Welle von großen IS-Attentaten, wie es sie in dieser Dichte noch nicht gab. Und aller Wahrscheinlichkeit nach werden bald weitere Anschläge folgen. “Der IS hat Tausende von Leuten, die nicht nur über den Nahen Osten verteilt sind, sondern auch von Westafrika über Südostasien und darüber hinaus”, sagte diese Woche John Brennan, der Direktor des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA, in einem Interview.
Mit Sicherheit sind nicht alle diese Anhänger bereit, als Attentäter zu sterben. Aber unter ihnen sind auch Schläfer, die nur auf ihren Einsatzbefehl warten. Möglicherweise sind sie schon vor Monaten ausgeschickt worden, um gezielt zu töten.
IS-Sprecher Abu Mohammad al-Adnani hatte derartige Aktionen in einer Audiobotschaft im Mai angekündigt. Letzte Woche veröffentlichte die IS-Nachrichtenagentur Amak eine Grafik, die ein internationales Netz von Untergrundkämpfern zeigen sollte.
Wie schon in Paris und Brüssel griffen die IS-Terroristen auch in Kaa, Istanbul, Dhaka und Bagdad sogenannte Soft Targets an. Das sind für jedermann leicht zugängliche Ziele, die keine aufwendige Vorbereitung erfordern. So können relativ einfach viele Menschen ermordet werden, und die weltweite Medienaufmerksamkeit ist gewiss.
Der IS versteht das als perfekte Propaganda. Und die hat er derzeit bitter nötig, um seine Anhänger bei der Stange zu halten. Denn seit einem Jahr hagelt es eine Niederlage nach der anderen. Im Irak hat die Terrororganisation mittlerweile fast 50 Prozent ihres Territoriums verloren. In Syrien ist es bisher nur ein Viertel, aber auch dort geht es Tag für Tag weiter bergab.
Mit Anschlägen, die internationale Schlagzeilen machen, soll das Abrutschen in die militärische Bedeutungslosigkeit und der Niedergang des Kalifats kaschiert werden. Die Führung der Terrororganisation hat begriffen, dass das Spiel aus ist. Nun wird der Abgang möglichst blutig inszeniert.
Aus dem Freund Türkei ist ein Feind geworden
Das erklärt auch den Zeitpunkt für die Aktivierung der Schläferzellen in den vier betroffenen Ländern. Am Mittwoch dieser Woche jährte sich die Ausrufung des Kalifats zum zweiten Mal.
IS-Führer Abu Bakr al-Bagdadi hatte am 29. Juni 2014 in der Großen Moschee der irakischen Stadt Mossul ein neues islamisches Weltreich ausgerufen. Dieses symbolträchtige Datum wollte der IS nicht ungenutzt verstreichen lassen.
Im Libanon traf der Anschlag wieder einmal die christliche Gemeinschaft. Ihre Zukunft ist in der gesamten Region bedroht. Ihre Vertreibung aus dem Nahen Osten ist ein erklärtes Ziel des IS wie anderer islamistischer Terrororganisationen.
In der Türkei wurde die Regierung in Ankara bestraft, die in den vergangenen Monaten Hunderte von IS-Mitgliedern hatte verhaften lassen. Vorbei sind die Zeiten, als die Dschihadisten unbehelligt über die Grenze kamen und ihre Verwundeten kostenlos in türkischen Krankenhäuser behandelt wurden. Aus dem ehemalige Freund ist ein Feind geworden, und dafür schien der IS blutige Rache zu nehmen.
Terrororganisation kann als Staat nicht mehr existieren
In Bangladesch schien es zunächst, als wolle die Terrorgruppe mit dem Massaker im Restaurant ein Ausrufezeichen hinter ihre relativ neue Präsenz in dem muslimischen Land mit 150 Millionen Menschen in Südasien setzen. Man könnte es als Branding, als Markenpflege bezeichnen.
Im Irak traf der Anschlag Schiiten, also Angehörige der Mehrheitskonfession im Land, die auch einen großen Teil der politischen Führung dort stellt. Als Premierminister Haidar al-Abadi den Ort des Bombenanschlags besuchte, wurde er von einer wütenden Menge als Dieb beschimpft. Eine Destabilisierung des Irak gelingt dem IS immer noch.
Doch man würde den IS überschätzen, wenn man ihn immer noch als politischen Machtfaktor ansähe. Die Terrororganisation hat sich damit abgefunden, dass sie als Staat nicht mehr existieren kann. Der IS könne kein Territorium mehr verteidigen und verschwinde in den Untergrund, hatte Sprecher al-Adnani in seiner Audiobotschaft erklärt. Wenn die Zeit reif sei, werde der IS wiederkommen.
Man kann sich darauf verlassen, dass die Dschihadisten ein spektakuläres Finale geplant haben. Eine Ahnung davon, wie schrecklich das werden kann, haben die vier Anschläge dieser Woche gezeigt.