Berlinale 2021: Die junge palästinensische Filmemacherin Samaher al-Qadi zeigt in ihrem Dokumentarfilm leidenschaftlich und auf sehr persönliche Weise, was es bedeutet, eine arabische Frau zu sein. Ihr Film ist eine Reise in die gesellschaftlich tief verankerte Unterdrückung von Frauen, aber auch ihren Willen, sich dagegen zu wehren. Von René Wildangel
Die persönliche Reise von Samaher al-Qadi startet 2003, als sie Palästina verließ, um an der Filmhochschule in Kairo zu studieren. Zehn Jahre später beginnt sie mit der Arbeit an ihrem Dokumentarfilm „As I want“. Zu dem Zeitpunkt ist der enthusiastische Aufbruch der ägyptischen Revolution vom Januar 2011 schon entgleist, die Muslimbrüder haben die Wahlen knapp gewonnen und die Macht übernommen. Die hart erkämpften Freiräume verengen sich immer mehr, besonders für Frauen. Massive sexuelle Angriffe auf Frauen häuften sich schon seit Beginn der Proteste und werden konsequent als Waffe gegen die Aufständischen eingesetzt, jetzt bekommen sie nochmal eine neue Qualität.
Am zweiten Jahrestag der Revolution, dem 25. Januar 2013, kommt es während der Proteste gegen die Muslimbrüder wieder zu massiven sexuellen Übergriffen. Noch schlimmer kommt es in der Nacht der Massenproteste gegen Präsident Mohammed Mursi Anfang Juli 2013. Aber diese Verbrechen bis hin zu brutalen Gruppenvergewaltigungen sind nur die Spitze eines Eisbergs, einer systematischen Entrechtung und Entmündigung von Frauen in der ägyptischen Gesellschaft. Ein umfassender Amnesty International Bericht von 2015 dokumentiert das Ausmaß, 99 Prozent aller befragten Frauen und Mädchen gaben in einer Umfrage der Organisation UN Women an, schon sexuell belästigt worden zu sein.
Vier Jahre bevor in den USA und in Europa 2017 mit #metoo viele Debatten überhaupt erst beginnen, protestieren Samaher und ihre Mitstreiterinnen gegen diese unerträglichen Angriffe – und eine gesellschaftliche Ordnung, die Frauen konsequent unterdrückt. Sie stehen auf gegen Machtstrukturen, die Männern erlauben, darüber zu entscheiden, wie sich Frauen kleiden, wie sie sprechen, wie sie sich bewegen sollen – kurz gesagt: gegen extrem patriarchale Strukturen. Samaher Al-Qadi dokumentiert das nicht nur. Gemeinsam mit ihren Freundinnen geht sie auf Demonstrationen, ruft zur Wehrhaftigkeit von Frauen auf, filmt Männer, die sie belästigen, konfrontiert sie mit ihren sexistischen Beleidigungen und verlogenen, angeblich moralischen Werturteilen. In dieser Zeit entstehen in Ägypten zahlreiche Initiativen gegen die Übergriffe.
Sexuelle Belästigung gegen Frauen als gesamtgesellschaftliches Problem in den arabischen Ländern: Ein umfassender Amnesty International Bericht von 2015 dokumentiert das Ausmaß, 99 Prozent aller befragten Frauen und Mädchen gaben in einer Umfrage der Organisation UN Women an, schon sexuell belästigt worden zu sein.
„Der Wandel kommt mit unseren Kindern und dem, was wir ihnen mitgeben“
Aber die gesellschaftliche Realität ist eine andere: Brüllen die Angegriffenen die Täter an, werden sie aufgefordert zu schweigen; wehren sich die Frauen mit Gewalt, werden sie selbst massiv bedroht; dokumentieren sie die Übergriffe werden sie beleidigt; und lassen Frauen Übergriffe geschehen, müssen sie mit der vermeintlichen „Schande“ leben. Die Polizei bietet keinen Schutz, wird im Zweifelsfall selbstzur Gefahr für die Frauen.
Immer wieder geht es um die Vorstellungen von Schande und Ehre, die ein patriarchales Bildungs- und Gesellschaftssystem den Frauen einimpft. „Wir sollen uns schämen für unser Lachen, unsere Schultern, für ein Foto oder den Wunsch nach Freiheit“, sagt Qadi im Interview mit Qantara.de. „Aber das realisiere ich erst jetzt, Jahrzehnte nach meiner Erziehung, die mir das vermittelt hat.“ In Kairo filmt sie junge Mädchen, die das genauso verinnerlicht haben und Al-Qadi belehren, sie müsse sich züchtig kleiden und solle sich „anständig“ verhalten.
Einst war auch die Regisseurin so ein Mädchen. „Die Fertigstellung des Films hat auch deshalb so lange gedauert, weil er eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema ist“, sagt Samaher Al-Qadi. Während sie in Kairo gemeinsam mit anderen Aktivistinnen immer lautstärker für die Rechte von Frauen auf die Straße geht, setzt sie sich mit ihrer eigenen Herkunft auseinander. Seit Generationen wurden die Frauen in ihrer Familie in jungen Jahren verheiratet. Ihre Schwester Manal ist kaum 40 und schon Großmutter. Ein anderer Weg ist für sie nicht vorgesehen. Trotz der liberalen Haltung ihres Vaters müssen sich die Frauen der Familie den gesellschaftlichen Erwartungen beugen. Doch durch den Umzug nach Kairo kann sie sich diesen traditionellen Rollenmustern entziehen: „Ich war das schwarze Schaf in der Familie“.
Die eigene Freiheit weiß sie zu schätzen – dass ihre inzwischen verstorbene Mutter diese nie hatte, ja, nicht einmal deren Möglichkeit in Betracht ziehen konnte, bedauert sie. Der imaginäre Dialog mit ihr, den sie real nie führen konnte, durchzieht den Film. Erst jetzt, knapp 20 Jahre nach dem Verlassen des Elternhauses, hat sie die Kraft, sich auch mit teils traumatischen Erlebnissen aus ihrer Kindheit auseinandersetzen. Im Film werden einige Episoden aus dieser Zeit nachgestellt, die Protagonisten: ihre Verwandten. Dass die Familie Teil der Erzählung wird, ist für Al-Qadi ebenso zwingend wie belastend: „Ich weiß nicht, was passiert, wenn der Film in Ramallah bei den Palestine Cinema Days gezeigt wird und ich da mit meinem Vater und meinen Geschwistern hingehe“.
Der Filmessay „As I Want“ der jungen palästinensischen Filmemacherin Samaher al-Qadi ist ein wichtiges und schonungsloses politisches Dokument – eine innere Reise, auf der sich individuelle Emanzipation und kollektive Befreiungsprozesse in der arabischen Welt miteinander verbinden.
Es geht um die kommenden Generationen
Al-Qadis Film beschränkt sich zwar weitgehend auf die Regierungszeit der Muslimbrüder, geht aber weit über diese spezifische Episode hinaus. Die strukturellen Gründe für die Unterdrückung von Frauen ähneln sich überall auf der Welt, der Einsatz dagegen ist für Al-Qadi eine universale Aufgabe.
Der im Film dokumentierte Jubel über den Putsch Al-Sisis im Juli 2013 und das Ende der Herrschaft der Muslimbrüder wirkt im Rückblick ebenso nachvollziehbar wie tragisch. Demonstrationen wie jene gegen Präsident Mursi sind heute längst nicht mehr möglich und auch die Filmarbeiten musste Al-Qadi kurz nach dem Putsch einstellen. 2017 hat die Filmemacherin Ägypten verlassen, die Zustände dort haben sich nicht gebessert, im Gegenteil. Die Menschenrechtsverletzungen unter Präsident Al-Sisi übersteigen alles, was das Land in den letzten Jahrzehnten erlebt hat. Die Übergriffe durch Sicherheitskräfte sind nahezu grenzenlos: Verschwindenlassen, Folter, Tötungen.
Zwar weist der Film auf ein 2014 unter Präsident Al-Sisi auf den Weg gebrachtes Gesetz gegen sexuelle Übergriffe hin. An der misogynen Alltagskultur und den staatlichen Missständen hat es aber bisher wenig bis nichts geändert. Aber jüngst hat eine neue Welle von Aktivismus endlich auch zu strafrechtlichen Konsequenzen geführt. Der Instagram account „Assault Police“ mit über 240.000 Followern hat dazu wesentlich beigetragen.
Trotz ihrer Enttäuschung über Ägyptens Weg bleibt daher auch Al-Qadi zuversichtlich. Die Hoffnung, ihren Film eines Tages auch dort zeigen zu können, hat sie nicht aufgegeben. „Die Revolution mag gescheitert sein, andererseits sie hat dazu geführt, dass die Menschen überhaupt wissen, was ihre Rechte sind!“ Auch ihr Film strahlt diese positive Energie aus. Letztlich, so Al-Qadi, geht es ihr um die kommenden Generationen.
Ihr Sohn Zein erlebte die unruhigen Zeiten in Ägypten als Kleinkind, der zweite Sohn Rami wurde während der Dreharbeiten geboren. Dass sie ihre Kinder einer großen Unsicherheit ausgesetzt hat, belastet Al-Qadi sehr. Aber ihr ist wichtig, dass sie verstehen, warum sich ihre Mutter gegen die Widerstände einsetzt, mit denen Frauen nicht nur im Nahen Osten, sondern weltweit konfrontiert sind. „Veränderung braucht Zeit“, sagt sie. „Es braucht mehr als Umstürze, Regierungswechsel oder Gesetze. Der Wandel kommt mit unseren Kindern und dem, was wir ihnen mitgeben.“
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