Plötzlich ist alles ganz fern

Mit Schneeschuhen über Patronenhülsen: Ein Spaziergang um Laqlouq in den letzten Tagen des libanesischen Winters

zu erreichen. Wegen des Lockdowns und wegen der brennenden Straßensperren in Jal el Dib, das oft als Erstes blockiert wird, wenn die Libanesen sich wieder einmal gegen den drohenden Untergang ihres Landes stemmen. Auf Google Maps  erscheint dann der kolossale Stau auf der einzigen Autobahn des Landes, an der Jal el Dib liegt, als dicke, dunkelrote Linie, von der sich Fäden in hellerem Rot die Berge hinaufziehen

. Doch der Libanon ist es gewohnt, dass immer morgen wieder alles anders sein kann als heute, und als die Straßen auf der digitalen Landkarte schließlich grün schimmerten, ging es los. Da war der Winter auch schon fast vorbei.

Ein bisschen Schnee lag aber noch auf den Höhen des Libanongebirges, in das sich die Libanesen gerne zurückziehen, auch in finsteren Zeiten wie diesen, in denen ihre Wirtschaft kollabiert, die Währung implodiert und politisches Geschacher dazu führt, dass es Monate nach der Explosion im Hafen von Beirut noch immer keine neue Regierung gibt.

Aber in den Bergen ist das alles weit weg. Je höher man kommt, desto leerer werden die mit Schlaglöchern übersäten Straßen, vor allem wenn man Faraya meidet, das größte der wenigen Skigebiete im Land. In diesem Jahr der Pandemie war es nur an wenigen Tagen geöffnet, aber stets sofort überfüllt wie in alten Zeiten, in denen die vorsintflutlichen Sessellifte einen landestypischen Kontrast zu dem Reichtum bildeten, der auf der Terrasse des Inter continental zur Schau stand, wo die „Madames“ ihren Kindern beim Toben mit den Nannys im Schnee zusahen.

Wo Kaiser Hadrian sein Revier markierte

Man kann es schöner haben in diesen Bergen. Viel besser als zur Abfahrt eignen sie sich zum Aufstieg, weil die Pisten selten steil sind und nie besonders lang. Selbst der höchste Berg im Libanongebirge, Qurnat al Sawda, das Schwarze Horn, mit einer Höhe von etwas mehr als dreitausend Metern, hat eine abgeflachte Kuppe und ist so leicht zugänglich, dass es von Squads und Geländewagen heimgesucht wird, kaum dass der Schnee geschmolzen ist.

Zum Leidwesen der Wanderer, die allerdings die meisten anderen Höhen und Täler für sich allein haben. Im Winter muss man sich nur Schneeschuhe anschnallen, dann tut sich das ganze Land auf, selbst Gegenden, die Bergführer im Sommer meiden, weil einen dann nicht die dicke Schneeschicht vor den Minen aus dem Bürgerkrieg schützt.

Eine der schönsten Höhen des Landes, die das ganze Jahr über ungefährlich ist, heißt Laqlouq.

Streng genommen ist es der Name eines Dorfes aus wenigen, halbverlassenen Häusern und einer Moschee, aber es hat sich eingebürgert, die ganze Gegend so zu bezeichnen. Einst war das Gebiet von dichten Wäldern bedeckt. Bären und Hyänen streiften durch das Unterholz.

Von dem römischen Kaiser Hadrian wurden Inschriften auf großen Steinen gefunden, mit denen er das Revier markierte, in dem er als Herrscher dieser Gegend im ersten Jahrhundert nach Christus gerne zur Jagd ging. Doch der Wald ist verschwunden, und geblieben ist eine Hochebene auf zweitausend Metern, die von zerfurchten Bergkämmen flankiert wird, in deren Kalkstein sich über Jahrhunderte tiefe Canyons und Höhlen gegraben haben.

Diese Berge bilden natürliche Barrieren nach fast allen Seiten und haben Laqlouq zu einem Refugium nicht nur für Selbstversorger gemacht, die alte Bauernhütten in Sommerhäuser ohne Strom und Wasser verwandelten. Auch die Reichen des Landes haben in Laqlouq ihre Villen errichtet, in hellem Stein oder dunklem Holz und in einer Architektur, die sich weit mehr von Schweizer Berghütten inspirieren ließ als von einheimischen Traditionen.

Die Gärten der verfolgten Christen

In diesem Jahr wirkt Laqlouq noch abgeschiedener als sonst. Die Chalets sind geschlossen, die Hotels bleiben leer. Wie überall war es auch für diese Gegend, die von Landwirtschaft und Tourismus lebt, kein guter Winter.

Allein die Spuren eines Schneemobils zeugen davon, dass jemand vor kurzem die Flanken des Berges befahren haben muss, und einige Fußabdrücke von Schneeschuhen sind zu sehen. Der Schnee ist nass und schwer, wie häufig in der Nähe des Meeres, selbst wenn er frisch gefallen ist.

Und er schmilzt bereits, weshalb allmählich zum Vorschein kommt, was er ein paar Wochen lang gnädigerweise verdeckte. Die bunten Patronenhülsen aus den Gewehren, mit denen viel zu viele Libanesen gerne auf Zugvögel schießen, viel Müll, der achtlos zurückgelassen wird. Aber es ragen auch die ersten Frühlingsblumen aus dem Schnee.

Ohne Schneeschuhe käme man nicht weit, aber mit ihnen, die man für gewöhnlich in kleinen Läden entlang der Straße nach Laqlouq kaufen oder ausleihen kann, schafft man es rasch den Hang hinauf und um die kleine Bergspitze mit dem Namen Saydet al Qrn herum. Ganz oben ragt ein Gipfelkreuz in den Himmel, erkennbar neu. Neben der gleichfalls erst vor kurzem errichteten Kapelle ist ein Geländewagen im Schnee versunken.

Es sieht aus, als hätten die Arbeiter ihr Material mit einer selbstgebastelten Seilwinde auf den Gipfel gebracht und diese Seilwinde mit dem Motor des Wagens angetrieben. Und als sie fertig waren, sind sie einfach gegangen. Aber es kann natürlich sein, dass sie im Sommer zurückkommen, den abgefallenen Reifen wieder anbringen und das Auto den Berg herunterbringen.

Vieles spricht dafür, dass der Ort nun zu einem noch beliebteren Ausflugsziel werden wird, an dem man frische Luft atmet, zu Saint Charbel betet und den Blick auf das Mittelmeer genießt. Anschließend fährt man vielleicht zum Mittagessen nach Aqoura.

Noch aber lässt sich das Mittelmeer hinter einem grauen Wolkenschleier nur erahnen. Noch hat der Schnee die Straßen wenigstens teilweise bedeckt. Wo sie nach Süden liegt, ist er oft schon geschmolzen, so dass man die Schneeschuhe aus- und wieder anzieht, aus und an, bis man von weit oben die beste Sicht hat auf Aqoura. Es liegt auf der anderen Seite der kleinen Bergspitze an einem steilen Hang, der schon vor Jahrhunderten vor allem von verfolgten Christen besiedelt wurde, die in dem unwegsamen Gelände Schutz fanden. Sie terrassierten die Hänge, pflanzten Hülsenfrüchte, Weinreben und Obstbäume, die noch immer die wirtschaftliche Grundlage des Dorfes bilden

Aqoura ist berühmt für seine Äpfel, die bis nach Ägypten exportiert werden und einen gewissen Wohlstand gebracht haben, der dem Ort wenigstens ein Mal den Titel des „schönsten Dorfes im Libanon“ bescherte, der nach einem öffentlichen Wettbewerb jedes Jahr vergeben wurde, als die Zeiten noch besser waren. Um ihre Apfelbäume das ganze Jahr über zu bewässern, haben die Bauern ein gutes Dutzend Teiche angelegt, die Schmelzwasser auffangen. Sie sind mit Plastikplanen ausgelegt, und im Sommer, wenn sie sich leeren, nicht schön anzusehen. Aber im Winter, von Schnee bedeckt, bilden sie lauter Krater in einer weißen Mondlandschaft, die den Eindruck nur noch verstärkt, weit weg von den erdrückenden Nöten des Landes zu sein.

Quelle https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/thema/google-maps