Ex-Chefanklägerin Carla Del Ponte (69) fordert eine grosszügigere Flüchtlingspolitik Das Elend dieser Kinder bricht mir das Herz

Sie brachte Staatschefs vor das inter­nationale Kriegsverbrecher-Tribunal. Jetzt ermittelt sie gegen Massenmörder in Syrien. Im Interview zeigt Carla Del Ponte ein Herz für Flüchtlinge.

Sie hielten gestern, auf Einladung von Amnesty Interna­tional, in Lugano einen Vortrag über Syrien. Was verbindet Sie mit dem Land?
Carla Del Ponte: Ich bin seit 2012 Mitglied einer Untersuchungskommission der Uno. Wir ermitteln wegen Verletzung der Menschenrechte und identifizieren jene hohen politischen und militärischen Führer, die dafür verantwortlich sind.
Zählt auch Syriens Regierungschef Bashar al-Assad dazu?
Ja, natürlich. Wir versuchen aber auch Täter in terroristischen Gruppen der Opposition und im sogenannten Islamischen Staat (IS) zu identifizieren.
Wie erhalten Sie die nötigen Informationen?
Die syrische Regierung lässt uns nicht ins Land. Dort herrscht ein rechtsfreier Raum. Wir sind auf die Berichte von Flüchtlingen angewiesen. Deshalb bin ich schon häufig in den Libanon, nach Irak, Jorda­nien und in die Türkei gereist.
Wie ist die Lage in den Flüchtlingslagern?
Katastrophal. Besonders das Elend der Kinder bricht einem fast das Herz. In den acht Jahren als Chefanklägerin des internationalen Kriegsverbrecher-Tribunals hatte ich vorwiegend mit den Tätern zu tun. Jetzt bekomme ich viel vom Schicksal der Opfer mit.
Tragen die Schweiz und Europa eine Mitschuld am Konflikt?
Nein, das nicht. Aber sie tragen Verantwortung für die Flüchtlinge. Sie sollten viel mehr aufnehmen. Die Asylpolitik ist auch für die Schweiz kein Ruhmesblatt. Es sind reiche Länder. Und die Situation der Flüchtlinge ist so verzweifelt. Sie geben ihr ganzes Geld aus für eine hochgefährliche Flucht. Das müsste doch nicht sein.
Viele Bürger haben Angst vor Flüchtlingsströmen, fürchten Entfremdung in der Gesellschaft und dass all die Menschen nicht integriert werden können.
Sowie der Krieg in Syrien vorbei ist, kehrt die grosse Mehrheit zurück in ihre Heimat. Die Syrer wollen nicht im Asylland bleiben. Warum also nicht viel, viel mehr Asyl gewähren?
Ist ein Frieden in Syrien in Sicht?
Ich sehe kein Licht am Ende des Tunnels. Es ist eine grosse Tragödie und eine sehr undurchschaubare Situation.
Wäre die Absetzung Assads eine Lösung?
Absolut nicht. Einen Frieden gibt es nur mit Assad. Man muss mit ihm verhandeln, wie wir es einst im Jugoslawienkrieg mit dem damaligen Präsidenten Serbiens, Slobodan Milosevic, schafften.
Was sind die Hauptprobleme im Syrienkonflikt?
Es ist der politische Wille, der fehlt. Zu unterschiedlich liegen die Prioritäten der beteiligten Mächte. Die USA wollen Assad weghaben, die Russen ihn behalten. Sie unterstützen die jeweiligen Truppen militärisch. Mit Waffengewalt ist aber kein Frieden möglich. Alle Parteien müssen sich endlich einigen.
Wie könnte man die arabische Welt einen und befrieden?
Wenn alle Verbrecher ermittelt und hinter Gitter gebracht würden. Das wäre schon einmal ein guter Anfang.
Gräueltaten gehören zu Ihrem Alltag, früher beruflich, heute im ­Ehrenamt. Jetzt kommt noch das Elend der Flüchtlinge hinzu. Woher nehmen Sie die Kraft weiterzumachen?
Meine Erfahrungen geben mir viel Energie. Ich war ein Leben lang Anklägerin. Ich werde für Gerechtigkeit und gegen Unrecht kämpfen. So lange, wie es geht.